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Dr. Hohenadl will kein Abstauber sein

SATIRE

13/06/24 „Zusammen ist man weniger allein“. Dr. Hohenadl musste den Titel irgendwann, irgendwo aufgeschnappt haben. Er wusste nicht wann und wo. Warum er ihn sich gemerkt hatte, war klar: Er fühlte sich an einem heiklen Punkt angesprochen und bemühte sich deshalb, Genaueres zu erfahren.

Von Werner Thuswaldner

Wahrscheinlich, weil er einerseits ganz gerne gewusst hätte, wie andere es anstellten, ihren Zustand der Vereinzelung zu verändern. Aber andrerseits wollte er nicht zu ausführlich darüber nachdenken, was bei ihm in der Vergangenheit alles schief gegangen war. Noch nie hatte er eine Studie darüber gelesen, welche Existenzweise für die sinnvollere gelten konnte: das Leben als Einzelner oder in der Gruppe.

Das gab es also wirklich in Wien?! Der Bürgermeister verschenkte viel tausendfach ein Buch. Nicht etwa, weil eine Wahl bevorstand, sondern aus lauter Zuneigung zu den Bürgern, die er zum Lesen bringen wollte. Jedes Jahr tat er das. Ausdrücklich wollte er nicht die elektronischen Medien fördern, sondern das herkömmliche Buch, denn die meisten Menschen würden von den elektronischen Plattformen allzu leicht zu zeittötenden, sinnentleerten Spielereien verführt, anstatt gute Literatur zu lesen.

Jedenfalls kam es so weit, dass manche Wiener anfingen, eine Bibliothek aufzubauen. Sie hatten von da an nicht bloß ein Buch zu Hause, sondern mit der Zeit zwei, drei, vier. Hohenadl war dies lange entgangen. Das kollektive Bildungsniveau in Wien hätte merklich zugenommen, schrieb eine Zeitung. „Eine STADT: ein BUCH“, hieß die Aktion. Dr. Hohenadl war zunächst nicht sicher, ob damit die Allgemeinheit angesprochen werden sollte, oder ob sie vor allem für Bedürftige eingerichtet worden war, die sich Bücher nicht leisten konnten.

Dr. Hohenadl war die löbliche Initiative des Bürgermeisters bis dahin nicht aufgefallen. Vielleicht weil er nicht genau hinhörte, was die Leute in der U-Bahn redeten. Er sah ein, Wichtiges versäumt zu haben und ärgerte sich. Nachholen ließ sich nichts, das erkannte er bald.

Dr. Hohenadl redete sich ein, nicht etwa an einem Schnäppchen interessiert zu sein, sondern herauszufinden, was sich hinter dem Titel „Zusammen ist man weniger allein“ verbarg. Als erstes las er Pressestimmen. Sie klangen euphorisch. Aber was hieß das schon.

„Schon jetzt ein Anwärter auf das beste Weihnachtsgeschenk für Freunde!“ – „Liebevoll illustriert […]. Eine goldrichtige Idee!“ – „Ein wunderbarer Augen- und Gaumenschmaus!“ – „Poesiealbum war gestern.“ – „Ein Mitmachbuch für alle Lebenslagen.“ – „Originell und durchgeknallt.“ Aber es war keine erstzunehmende Zeitung darunter, lauter Magazine, die die Oberflächlichkeit liebten.

Dr. Hohenadl setzte seine Recherche in einer Buchhandlung fort, in die er ohne Kaufabsicht gegangen war. Er fand heraus: Ja, das Buch hatte mit ihm und seiner Lage zu tun. Aus Angst vor dem Alleinsein schlossen sich höchst unterschiedliche Menschen zu einer Wohngemeinschaft zusammen, hieß es in einer Beschreibung. Das war ein Schritt, den Dr. Hohenadl für sich mehr als einmal überlegt hatte. Allerdings nur spielerisch, nie ganz ernsthaft. Keinen Tag hätte er es mit den anderen ausgehalten. Dessen ungeachtet fand er den Titel ansprechend. Er fühlte sich aufgefordert, sich um das Buch zu kümmern. Nicht etwa aus Habsucht. Er redete sich ein löbliches Motiv ein und wollte die Nachfrage anschieben, damit ja nicht der Eindruck entstünde, das Interesse der Wiener Bevölkerung sei gering, für das nächste Jahr könne man die Aktion daher abblasen und sich das Geld sparen. Das durfte nicht passieren.

Wo also konnte er sich das Buch des Bürgermeisters abholen? In dessen Amtsräumen? In einem Verzeichnis fand Dr. Hohenadl eine lange Liste von Abgabestellen. Wie eine Frau, die sich auf einen öffentlichen Anlass vorbereitet, fragte er sich: Was soll ich dazu anziehen? Er glaubte, bedürftig erscheinen zu müssen, so wie arme Menschen, die auf Sozialmärkte angewiesen waren.

Als er die Abgabeliste durchging, entschied er sich ohne langes Überlegen für eine Bankfiliale weit draußen, wo die geringste Chance bestand, auf Bekannte zu treffen. Wenig später saß er in der U-Bahn Richtung Kagran. Sein Ziel war eine Bankfiliale in der Wagramerstraße.

Er sah sich im Waggon genau um. Sein erster Gedanke: Waren hier Menschen, mit denen er sich vorstellen konnte, in ein und derselben Wohnung zu leben? Niemand darunter. Der zweite Gedanke: Warum las hier niemand in dem Gratisbuch? Wo waren alle die hunderttausend Bücher, die in bereits in Umlauf sein sollten?

Nach dem Betreten der Schalterhalle sah er sich um und zögerte. Er konnte doch nicht auf den nächstbesten Bankangestellten zugehen und das Buch verlangen. Wahrscheinlich musste man hier ein Konto haben und einzelne Angestellte kennen, und die Bücher waren nur Kunden vorbehalten. Dr. Hohenadl hätte sich aus der Verlegenheit helfen können, wenn ihm rasch ein Bankgeschäft eingefallen wäre. Die Bezahlung einer Rechnung per Erlagschein oder die Anweisung einer Spende an eine Hilfsorganisation. Aber wie immer hatte er keinen nennenswerten Bargeldbetrag bei sich. Er gab vor, sich an einem der Geldautomaten zu betätigen und trat dann so rasch wie möglich den Rückzug an.

Zu Hause sah er sich noch einmal gründlich die Liste der Abgabestellen an. Einige Kaffeehäuser standen drauf. In einem Cafe musste man nicht eingetragener Kunde sein, jeder konnte kommen. Man ging hinein, suchte sich einen Platz, dann kam der Kellner, man bestellte und wie nebenbei fragte man den Ober nach dem Buch.

Das Cafe Landtmann kam ihm sehr geeignet vor. Dort würde er anonym bleiben können. Es lief auch genauso ab, wie er sich den Vorgang in seinem Kopf durchgespielt hatte. Der Kellner kam, Dr. Hohenadl bestellte eine Melange, sagte einen Brückensatz, der sich auf den Frosteinbruch so früh im Jahr bezog, und brachte dann die Rede auf das Gratisbuch.

„‘Zusammen ist man weniger allein`, Sie müssen wissen, ich suche schon lang nach diesem Buch, denn ich beschäftige mich gerade mit einer Studie über verschiedene Existenzweisen. Und nun höre ich durch Zufall, dass es das Buch hier bei Ihnen gibt. Sie sind ja vermutlich ein Experte in Bezug auf das Thema. Sie beobachten den ganzen Tag Einzelne, Paare und Gruppen, die zu Ihnen ins Cafe kommen. Sie werden wahrscheinlich wissen, wer die Glücklicheren sind. Vielleicht wäre es besser, Sie würden diese Studie verfassen, nicht ich.“

Dr. Hohenadl hatte nicht den Eindruck, dass ihm der Ober aufmerksam zugehört hatte. Der Mann nickte nur kurz und verschwand. Er kam wieder mit der Melange und dem Buch. Dr. Hohenadl machte noch einen schwachen Versuch, seinen Monolog über das Leben allein und in der Gruppe fortzusetzen, war ein bisschen enttäuscht, denn es war nur eine Taschenbuchausgabe. Er sah von der Melange zum Buch und überlegte, wie viel an Gewinn für ihn übrigblieb, wenn er den Preis für die Melange abzog. Sehr viel war das nicht. Wäre er nicht schwarz gefahren und hätte er den Preis für die Fahrkarten berücksichtigen müssen, wäre es wahrscheinlich auf Null ausgegangen.

Beim Verlassen des Lokals wurde ihm ein Problem bewusst: Das Buch passte nicht in seine Jackentasche. Er musste es in der Hand tragen. In der Straßenbahn kam es ihm vor, als entginge keinem der Fahrgäste, welches Buch er in Händen hatte. Er fühlte sich als Schnorrer enttarnt, als Abstauber. Das hielt er nicht aus. Er stieg aus und ging zu Fuß heim. Die ganze Buchaktion war ihm verleidet. Auf eines der Regale gestellt, sah das Gratisexemplar mit seinem unscheinbaren Rücken nach nichts aus. Dazu kam das wachsende schlechte Gewissen: Hatten viele tausend andere das Buch nicht viel nötiger als er?

Am nächsten Tag fuhr er zum Cafe Landtmann, das Buch hatte er in einem kleinen Aktenkoffer bei sich. Noch einmal etwas konsumieren zu müssen, wollte er unbedingt vermeiden. Er streifte durch das Lokal, fand eine freie Ecke, öffnete im Stehen den Aktenkoffer und legte das Buch diskret auf den Tisch. Der Kellner, der ihn am Tag zuvor bedient hatte, stand wie aus der Erde gewachsen neben ihm und fragte nach seinen Wünschen. Dr. Hohenadl setzte sich verlegen hin. So, das würde nun neuerlich Geld kosten.

Viel später, als Dr. Hohenadl im Computer nach nichts suchte, stieß er auf ein Antiquariat und fing an, sich spielerisch nach verschiedenen Titeln zu erkundigen. Wie von selbst schrieben die Finger seiner Hände „Zusammen ist man weniger allein“. Das Ergebnis: Bei Abebooks.de wurden 76 Exemplare zu 0,99 Euro angeboten. Nicht ganz gratis.

Werner Thuswaldners Prosaband „Die Welt des Dr. Hohenadl. Ansichten eines gelernten Österreichers“ ist 2019 bei Ecowin erschienen
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Aus dem produktiven Leben eines Knauserers

 

 

 

 

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