Antonia im Leichensack
UNIVERSITÄT MOZARTEUM / LES CONTES D'HOFFMANN
11/05/19 Einen Leichensack stellt jede Pathologie gerne zur Verfügung. Wird die Bahre mit dem riesigen weißen Restmüllsack hereingeschleppt, kommt das Grauen direkt aus dem Magen: Es erhebt sich – wenn auch mit Mühe – Antonias verstorbene Mutter als Zombie.
Von Heidemarie Klabacher
Gibt es wirklich nichts, was der Mensch dem Menschen nicht antut, aus purer Lust an der Qual? Das romantische Spiel mit dem Tod ist in diesem Antonia-Akt ein Horrortrip ohne Blut und Kettensäge. Witz und Ironie und romantische Brechung helfen in diesem Moment erstaunlich wenig. Das Grauen dominiert mit einfachsten Mitteln, mit Bahre, Leichensack und ein wenig weißer Farbe... Nur wenig schlimmer ist, wie das Automatenfräulein Olympia ihre Puppe vergewaltigt und diese mit den Kufen des Schaukelpferdes rädert. Die Schauerromantik mit kopflosen Rittern und nebligen Geistern wird zum harmlosen Gemälde an der Wand einer Seele, die ihre Abgründe vor sich selber nicht länger verschließen kann: Der Blick hinab offenbart Perversion und Krankheit wie aus dem Lehrbuch.
Dabei ist die Aufführung von Offenbachs Le Contes d‘Hoffmann im Großen Studio der Universität Mozarteum zugleich voller Witz. Das Uhrwerk in besagter kinder- bzw. puppenschänderischer Olympia tickt ja mechanisch auch sonst nicht immer ganz richtig. Dann muss sie gestoppt und neu aufgezogen werden. Diese Olympia ist kaum zu stoppen, sie bricht aus dem Spieluhren-Getändel immer wieder aus und zeigt – nur für Augenblicke – die blitzschnellen kampf- und gewaltbereiten Gesten und Bewegungen eines auf fernöstliche Kampfkunst spezialisierten Killers. Und das in rosa Stieflettchen und Tüllröcklein.
Gernot Sahler leitet Orchester und Chor der Universität Mozarteum. Für die szenische Leitung der gemeinsamen Veranstaltung der Departments für Oper und Musiktheater, Gesang, Bühnen- und Kostümgestaltung sowie Film- und Ausstellungsarchitektur zeichnet Alexander von Pfeil. Die so karge wie deprimierend heruntergekommene „Ausstattung“ haben sich Lisa Behensky und Theresa Staindl ausgedacht – mit enormem Gespür für leitmotivisch liegenbleibenden - die Szenen unheimlich dicht miteinander verflechtenden – seelischen Müll von Schreibmaschine bis Schuhwerk.
Le Contes d‘Hoffmann von Jacques Offenbach basieren auf mehreren, locker ausgeschlachteten Erzählungen des deutschen Dichters E.T.A. Hoffmann. Erzählt wird von bizarren Affären tragisch-verblendeter Helden mit einem Automaten, einem todkranken Mädchen und einer Hure. Noch viel fantastischer als die Erzählungen selber sind freilich deren Anverwandlungen in Musik: Vermischt sich doch in der Opéra fantastique das Leben des – historischen – Dichters in totentanzartigem Reigen mit den Figuren aus dem Libretto von Jules Barbier nach dem Drama von Jules Barbier und Michel Carré... Verflochtener geht es kaum mehr.
Und Offenbach selber tanzte während der Arbeit am Hoffmann im Wortsinn mit dem Tode. Mit den bekannten – und bis heute jede Aufführung quasi zur Uraufführung machenden – Folgen: „Als er 1880 starb, hinterließ er einen gewaltigen Torso unterschiedlichster Versionen und Skizzen. Die Versuche seiner Zeitgenossen, das Werk zu rekonstruieren und zur Aufführung zu bringen, geraten selbst zu etwas Abenteuerlichem: Teile von Offenbachs Autograph fallen einem Theaterbrand zum Opfer, Jahrzehnte später tauchen verloren geglaubte Versionen wieder auf (sogar ein ganzes Finale, welches den Giulietta-Akt völlig anders beendet als bislang vermutet). So eröffnet sich für jede Neuinterpretation ein Kaleidoskop an Möglichkeiten“, heißt es – eine schier unendliche Fassungsgeschichte knapp zusammenfassend – im Programmheft.
Die aktuell am Mozarteum aufgeführte Variante verzichtet auf die nachträglich komponierten Rezitative und bedient sich des erst 1999 „uraufgeführten“ Finales des Giulietta-Aktes. Bei allem Bemühen um Uneindeutigkeit in der Konstellation der Beziehungen aller Figuren zu allen anderen bleibt in dieser so knappen wie elegant ausgeputzten Fassung wenig Hoffnung für Hoffmann. Was üblicherweise treuer Freund und mahnende Gefährte ist – die Doppelfigur La Muse/Nicklausse – scheint nicht abgeneigt, mit dem Bösen zu flirten und zu triumphieren.
Gesungen wird in französischer Sprache (mit deutschen Untertiteln) in allen Rollen auf stupendem Niveau: Nutthaporn Thammathi als Hoffmann bewegt, erschüttert und überzeugt mit souverän geführter in allen Lagen und Lautstärken reich timbrierter Stimme. Stark aufgewertet wird in dieser Fassung die Partie La Muse/Nicklausse, die Maria Hegele mit größtem Understatement – bei größter Gestaltungskraft – zur heimlichen Hauptfigur werden lässt: weder Freund noch Feind Hoffmanns, vielmehr auf einer Seite stehend, die eher nicht Partei ergreift für einen angeschlagenen Künstler mit Schaffens- und Lebenskrise. Diese Doppelbödigkeiten tun weh und sind doppelt schmerzhaft angesichts der zahlreichen Brutalitäten körperlich-sexueller und seelisch-psychologischer Natur.
Von der kampfkunst-mäßig auszuckenden Automaten-Schönheit Olympia und ihrer drangsalierten Puppe war schon die Rede: Lieblichste Gestalt und feinst-perlende Stimme schenkt diesem Monster die brillante Sopranistin Ornella de Luca. Der einzige Mensch aus Fleisch und Blut, mögen beide noch so hinfällig sein, ist die kranke Sängerin Antonia: Die Sopranistin Sejin Park gestaltet dieses bewegende Porträt mit so klangvoller wie verinnerlichter Intensität. Offensiv, direkt, unverblühmt, und in der Liebe schwach und verletzlich wie alle, gibt sich die Sopranistin Ayse Senogul als Kurtisane Giulietta.
Durch den Wegfall der verbindenden Rezitative bekommen auch die Diener-Figuren - Andrès/Cochenille/Frantz/Pitichinaccio – erstaunliches Gewicht: Johannes Hubmer, der heimlihce Liebling der Produktion, muss sich einiges an Übergriffen gefallen lassen. Die Bösewichte Lindorf/Coppélius/Miracle/Dapertutto, mit Grandezza gesungen und dargestellt von Daniel Weiler, sind in dieser Lesart mit der Titelfigur als jeweiliges dämonisches Alter Ego so eng wie kaum einmal verbunden.
Souverän wie von der Bühne herab klingt es aus dem Orchestergraben herauf: Der großen Romantik der Partitur wird das junge Ensemble unter der Leitung von Gernot Sahler ebenso klangvoll gerecht, wie der fein ziselierten intimen Miniatur. Eine stupende Gesamt-Leistung. Ein „Hoffmann“, der in seiner Abgründigkeit in Erinnerung bleiben und Maßstäbe für die künftige Interpretation setzen wird. - Und wer zum Teufel ist das zarte verzweifelte Mädchen, das sich Hoffmann immer wieder zu nähern versucht und immer wieder brutal von dessen Seite gerissen wird? War da noch eine unerwiderte Liebe auf dem Kerbholz