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Familienaufstellung anno 1844

REST DER WELT / WIEN / MARIA MAGDALENA

21/02/14 „Über Menschen sage ich nichts, gar nichts“, versichert der alte Meister Anton, „ich mache nur Erfahrungen“. Wäre er doch zu Erfahrungen fähig! Aber Meister Anton ist einzementiert in einer alten Welt, die er – so sagt er am Ende des Stücks immer noch voller Selbstmitleid – nicht mehr versteht. – Hebbels „Maria Magdalena“ im Burgtheater.

Von Reinhard Kriechbaum

076Vor ziemlich genau einem Jahr hat Michael Thalheimer im Burgtheater Hofmannsthals Elektra in einen Schacht gestellt, sie eingepfercht in Schräglage. Schon aus Gleichgewichtsgründen war sie ständig verheddert mit den anderen Figuren des Stücks. Einen ähnlichen Schacht hat Bühnenbildner Olaf Altmann auch diesmal gebaut, als dekoratives, aber nicht so konsequent genutztes Versatzstück. Thalheimer lässt Hebbels „Maria Magdalena“ dort drinnen beginnen. Noch ist der Schacht gerade, doch er neigt sich, wenn die Nachricht kommt, der Sohn habe Juwelen entwendet. Da trifft die Mutter der Schlag. Leonhard, Schwiegersohn in spe der eigentlich nur hinter der Mitgift her ist, nutzt die gute Gelegenheit und sagt sich von Tochter Klara los.

Tilo Nest stampft als Meister Anton bei jedem Schritt mit seinem Stock so fest auf, dass er suggeriert: Da steht einer mit drei kräftigen Beinen da, im Leben und in der Gesellschaftsordnung. Der Familienvater als Oberpharisäer. Bei einem solchen hätte eine Büßerin nicht das Geringste zu hoffen, und hieße sie Maria Magdalena. Die Tochter heißt aber Klara, und sie ist schwanger. Noch am Totenbett der Mutter nimmt sie der Vater ins Gebet, in die Hand der Verstorbenen muss Klara ihre Unberührtheit schwören. Meineid aus Gehorsam.

075Sarah Viktoria Frick ist diese Klara – ein pausbäckiges Püppchen mit weit abstehendem Rock. Die Arme hält sie steif wie eine Marionette seitwärts am Körper. Sie versucht, ein Abklatsch der Mutter zu sein oder wenigstens zu werden. Die Mutter (Regina Fritsch) ist freilich seelisch auch total verkorkst, sie fällt in eine unnatürliche Fistelstimme, wenn sie ihre Stehsätze aus der heilen protestantischen Bürgerwelt von sich gibt. Der Bruder Karl (Tino Hillebrand) versucht’s mit Schneid und etwas mehr Lautstärke. Er wird sich ja dann davon machen, aufs Schiff, wogegen seine Schwester ins Wasser geht.

Michael Thalheimer führt uns krasse Charaktere vor, immer eigentlich an der Grenze zur Karikatur. Als präziser Zeichner von Gemütslagen bestätigt sich der Regisseur, aber diesmal auch als einer, dem die eigene Didaktik ein Bein stellt, der sich irgendwie selbst eingefroren hat mitsamt seinen Figuren. Es darf sich wenig, ganz wenig entwickeln an diesem Abend. Jede Gestalt ist von der ersten Minute weg fertig definiert. Hebbels bürgerliches Trauerspiel gerät zur Antikentragödie, in der alles zwangsläufig dem schlechten Ende entgegen läuft. Vielleicht ja auch deshalb Thalheimers Anspielung auf seine eigene „Elektra“ am selben Ort.

Dieses Nicht-Entwickeln wird zum Problem, denn in den Eindreiviertelstunden passiert wenig Unvorhersehbares. Wie Diaprojektionen wirken diese deformierten Menschen, von Sekunde eins ultra-scharf eingestellt. Der Fokus wird keinen Zehntelmillimeter mehr verrückt. „Es ist schönes Wetter, wir wollen spießrutenlaufen“, heißt es einmal. Den Spießrutenlauf dieser Leute enthält uns Thalheimer dann doch weitgehend vor, sondern zeigt uns eine Familienaufstellung anno 1844.

Ein schauspielerisch ausgefeiltes Setting freilich, das viel Anschauliches bereit hält. Die Verschlagenheit des verlobten Leonhard etwa, dem Lucas Gregorowicz leicht buckelnd eine mehr als traurige Gestalt gibt. Oder den kurzen Auftritt des Kaufmanns Wolfram (Johann Adam Oest), der sich gar nicht einkriegen kann vor Entsetzen, dass seine Juwelen ja gar nicht gestohlen sind.

074Klaras Jugendfreund, der Sekretär (Albrecht Abraham Schuch): Der kommt als einziger ganz unbefangen daher, legt los mit seinem herzhaften Small talk. Und da sieht es ganz kurz so aus, als entglitte der stocksteifen Klara doch ein Lächeln wie ein Silberstreif am zapfendusteren Horizont. Übrigens: Sie schauen nicht nur aneinander vorbei, diese Leute, die nie auch nur ansatzweise gelernt haben, ein Gespräch zu führen. Ein (zu Tode gerittenes) Stilmittel von Thalheimers Inszenierung ist es, dass alle Protagonisten immer geradewegs nach vorne in den Zuschauerraum blicken. Es spielt ja jeder seine vordefinierte Rolle in diesem bürgerlichen Trauerspiel, da braucht es keine Dialogpartner, keine Blicke des Einverständnisses. Das hält Thalheimer auch wirklich durch, und nur in den paar Szenen, in denen ultra-kurz die Option auf persönliche Freiheit aufblitzt, wenden die Protagonisten einander die Gesichter zu. So wie eben Klara und der Sekretär in der kurzen Szene, da sie allein sind.

Der Sekretär wird, nach verlorenem Duell gegen Klaras Verlobten, dem Vater seine blutverschmierte Hand entgegen strecken – aber der alte Meister Anton sieht wieder einmal nicht hin. Warum sollte er? Er versteht die Welt nicht mehr. Er hört da wohl nur mehr jenen sirrenden hohen Ton, der sich gezielt enervierend durch die ganze Aufführung zieht: Leute, die vor sich und anderen so kräftezehrend-intensiv (lebens)lügen, schweben in latenter Tinnitusgefahr.

Aufführungen bis 28. März – www.burgtheater.at
Bilder: Burgtheater / Georg Soulek

 

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