Eine kleine europäische „Spukgeschichte“
SALZBURGER HOCHSCHULWOCHE
29/07/14 María do Mar Castro Varela zeichnete am ersten Tag der Salzburger Hochschulwoche eine europäische „Spukgeschichte“ nach, um in der Konfrontation mit einem Europa als Ort der Gewalt einen Bildbruch zu vollziehen: „Es tut gut daran, sich den Gespenstern zu stellen.“
Die Berliner Erziehungswissenschaftlerin María do Mar Castro Varela thematisierte in „Spukgeschichten“ Gewalt und Krisen, um das populäre Bild eines Europas als Friedensprojekt und Wiege der Zivilisation zu stören. Ihr gehe es darum, das „Gespräch mit den Gespenstern“ zu suchen und einen Umgang zu entwickeln, der es erlaubt, ihnen zu begegnen. Die Wissenschafterin skizzierte die blutige Geschichte des Imperialismus, um schließlich im Sinne postkolonialer Theorien insbesondere das klare Verhältnis von Wissen und Macht darzustellen, ja, das Bild eines neutralen Wissens ins Bröckeln zu bringen.
Der Frankfurter Universitätsprofessor Knut Wenzel sei bekannt dafür, „literarisch inspirierte und kulturwissenschaftlich versierte Theologie“ zu betreiben – so Hochschulwochen-Leiter Gregor M. Hoff. Tatsächlich sagte Wenzel in seinem Vortrag am Montag (28.7.), es sei eine „hoffnungslose Überforderung, über dieses Projekt Europa zu sprechen“. Er wich lieber in den Mythos aus. Jedoch nicht um den Gründungsmythos zu revitalisieren, sondern den „Durchgang vom Mythos zum Mythos“ zu verfolgen. Und damit findet er sich in guter Gesellschaft mit vielen Künstlern und Künstlerinnen der Moderne, sei es James Joyce, Christa Wolf, Richard Wagner oder Richard Strauss.
Letzter widmete sich dem Mythos der Daphne in der im Jahr 1938 uraufgeführten Oper, deren Stoff Wenzel aufgriff, um ihn für die Identitätsfrage Europas fruchtbar zu machen.
Im übrigen verglich Wenzel unseren Kontinent mit einer Insel: „Keine kompakte Uferlinie, vielfach unvollständig, offen.“ Wenzel bezeichnete Europa als einen „Archipel der Moderne und eines melancholischen Glaubens“. Im Begriff des Archipels artikuliere sich jene Spannung zwischen Universalem und Partikularem, die Wenzel auch im Mythos wiederzufinden meint. Ein Kontinent der „Subjekte", die sich quasi aus dem Widerstand heraus bilden. Da ging der Theologe auf die Figur der Daphne ein, die sich einer Logik der Zwangsvergemeinschaftung verweigere und gerade im Zagen Lebendigkeitstreue offenbare. „So wie die Selbsbehauptung im Mythos der Daphne ihren Preis fordert, so verwirkliche sich auch das Subjekt erst in der Klage, in der Distanzierung zu sich selbst – eine Emanzipationsgeschichte der Moderne kann sich von einer Gewaltgeschichte Europas nicht lösen.“ Die Wehrlosigkeit der Daphne brachte Wenzel schließlich mit Verweis auf Friedrich Nietzsche in Beziehung zum christlichen Gott, dessen „Lebensbejahung so fundamental ist, dass sie sich in Selbstaufgabe artikuliert“. (HSW)