Krieg und Frieden
FESTSPIELE / WIENER PHILHARMONIKER / BLOMSTEDT
28/08/21 Mag sein, dass die Ouverture spirituelle nicht vor vier Wochen zu Ende gegangen ist, sondern in Wirklichkeit erst an diesem letzten Festspiel-Wochenende. Da spielten nämlich die Wiener Philharmoniker unter Herbert Blomstedt Arthur Honeggers Dritte Symphonie, die den Beinamen Liturgique trägt.
Von Reinhard Kriechbaum
In der Ouverture spirituelle hörten wir ja eine ganze Reihe von Werken der klassischen Moderne, die während des Weltkriegs oder danach entstanden sind und auf die Gräuel Bezug nehmen. Da reiht sich Honeggers 1946 in Zürich uraufgeführte Liturgique-Symphonie gut ein. Mit einem geradezu niederschmetternd motorischen Satz – Dies irae überschrieben – hebt sie an: Grelle Flöten und Trompetenklänge und wuchtiges schweres Blech prallen aufeinander, nicht weniger aggressiv wirken die fast durchwegs rhythmisch-markant stechenden Streicher. Schrecken und Verzweiflung sind anschaulich in Klang gefasst, in einem ausgereizten Neoklassizismus, der in seiner krassen Schärfe an symphonische Bekenntnismusik von Schostakowitsch denken lässt. Das wird im Lauf von knapp fünfzehn Minuten mächtig gesteigert, bis sich der Tumult mit einem verhaltenen Beckenschlag und anderem Schlagwerk, das plötzlich zurückgenommen wird, sich wie von Geisterhand entfernt. Richtung Himmel oder Richtung Hölle?
Herbert Blomstedt steht am Pult des letzten Wiener Philharmoniker-Doppels (28./29.8.) dieses Festspielsommers. Dem Furor des Eröffnungssatzes hat er mächtig nachgeholfen. Dem Adagio, das den Psalm De profundis clamavi im Titel führt, ist Zerknirschung eingeschrieben. Honegger, Mitglied der „groupe des six“ in Paris, hat das als ein Melancholie-Chanson von kammermusikalischer Durchsichtigkeit sondergleichen gefasst. Dafür kommt's dann wieder dick: Der mit Dona nobis pacem überschriebene Finalsatz hebt als Marsch an, zum Schlagzeug-Geknatter kommt eine kräftige Hornmelodie. An Heerscharen denkt man bald, so wie sich der Marsch über lange Strecke zu einem martialischen Furioso steigert. Kompliment vor der Spannkraft des alten Herrn am Pult: Herbert Blomstedt ist der rechte Kapellmeister für dieses Werk. Eine großräumige Entwicklung wie diese lässt er konsequent und zielgerichtet durchzeichnen. Es knirscht und schreit zuletzt – aber da naht Rettung in Form eines Cello-Solos, die Flöten übernehmen, Solovioline und Piccoloflöte tragen zur Absicherung der plötzlichen Ruhe bei. Die Bitte nach Frieden ist erhört worden, ein Pax mit wiederum französischem Odeur. Honeggers hierzulande so gut wie nie aufgeführte Symphonie Liturgique ist ein blendend instrumentiertes, effektsicheres Stück. Und so nebenbei: eine Posaunen-Schinderei der Sonderklasse.
Die späte Liebe der Wiener Philharmoniker zum unterdessen 94jährigen Herbert Blomstedt: Die trug an diesem Samstagvormittag auch für Brahms' Vierte Symphonie schönste Früchte. Der alte Kapellmeister vom Scheitel bis zur Sohle, der so gar nicht betulich und schon gar nicht gebrechlich wirkt, setzte ein gelichtetes Klangbild durch, mit vielen sich rundenden Einzelheiten, die in Routineaufführungen (dafür wäre die Vierte durchaus anfällig) so eher nicht rauskommen. Was mir da so durch den Kopf ging: Wie, wenn die Wiener Philharmoniker Blomstedt so rasch wie möglich fürs Neujahrskonzert einlüden? Das wäre vielleicht kein Schlager – aber vermutlich eine ganz feine Sache.