Den Bach hinauf
FESTSPIELE / ANDRÁS SCHIFF (1)
13/08/18 Es war ein Marathon der anderen Art. Er verlangte vom Interpreten konzentrierte Gestaltung, von den Zuhörern entsprechendes Mitverfolgen: Sir András Schiff – vor vier Jahren in England geadelt – nahm sich am Sonntag (12.8.) „Das Wohltemperirte Clavier“, Band eins, vor.
Von Horst Reischenböck
Er liebt Zyklen: Jahrelang tourte András Schiff mit dem „Neuen Testament“ für alle Pianisten, Ludwig van Beethovens Sonaten in chronologischer Reihenfolge, durch die Lande, bevor er sie aufzeichnen ließ. Das „Alte Testament“, Bachs Klavierzyklen, von den zwei- und dreistimmigen Inventionen bis zu den Goldberg-Variationen (letztere zyklisch bei den Festspielen 1996). Heuer also spielt er, auf zwei Abende verteilt, im Großen Saal des Mozarteums Bachs zweimal 24 Präludien und Fugen durch alle Tonarten. Ein in der Tat Festspielen würdiges Ereignis.
Bach baute auf Arbeiten von Vorgängern auf, aber ihm kommt letztlich das Verdienst zu, mit dem „Wohltemperierten Klavier“ in allen Tonarten zeitlos Gültiges komponiert zu haben. Einige Stücke sind entstanden, um für den Sohn Wilhelm Friedemann Übungsmaterial zu schaffen. Dieser Ausgangspunkt – vorerst elf Präludien in dessen „Notenbüchlein“ – blieben dank einer zehn Jahre später entstandenen Abschrift erhalten. Der überarbeitete Zyklus, in der damals gebräuchlichen Paarung um Fugen ergänzt und durch alle chromatischen Tonleitern hindurch geführt, sollte schon zu Lebzeiten Bachs bekannteste Schöpfung werden. Als Sechzigjähriger ließ der Thomaskantor ein zweites Kompendium folgen.
In den Reigen seiner berühmten Interpreten reiht sich András Schiff ein: Ihm war Bach immer schon eine Herzensangelegenheit. Äußerlich ruhig, unprätentiös, aber, wie sich im Verlauf herausstellen sollte, voll lodernder Leidenschaft durchmaß er diesen einzigartigen Kosmos. Vom allgemein bekannt ersten C-Dur-Vorspiel BWV 846 (dem Charles Gounod die unsägliche Schnulze eines „Ave Maria“ aufpfropfen zu müssen glaubte) bis hin zur von ihren Dimensionen her ausufernd bekrönenden Fuge in h-Moll BWV 869, deren Thema bereits lange vor Arnold Schönberg alle zwölf chromatischen Töne bediente.
Schiff schöpft den Reichtum an Angebot gestalterischer Möglichkeiten voll aus. Im wie ein Perpetuum mobile dahinschnurrenden, gleichwohl technisch anspruchsvollem Präludium in D-Dur oder im duftig daher kommenden Fis-Dur-Gegenstück. Schiff versenkte sich in den getragenen Ernst des As-Dur-Präludiums genauso wie er das einer Orgel-Toccata ähnelnde in B-Dur oder den aufwühlenden b-Moll-Kondukt aus den Tasten meißelte.
Dem entsprach Schiff auch in der nachgestalterischen Vielfalt der sich anschließenden, nicht minder vielgestaltigen Fugen. Die polyphone Kunst ist im fünfstimmigen cis-Moll-Werk zur Tripelfuge gesteigert. Sie galt Max Reger, einem vertraut-versierten Nachfahren im Geist, als „das schwerste Klavierstück der gesamten Literatur“. Ungewöhnlich die Fuge in fis-Moll, in der das Thema im Tenor einsetzt, dann folgen Altstimme, Bass und erst danach der Sopran. Auch Tänzerisches verpackte Bach mit hinein: Cis-Dur ähnelt einer Gavotte, dem F-Dur-Menuett folgt wenig später eine Gigue in G-Dur. András Schiff hat das samt und sonders plastisch aufgeschlüsselt und so überzeugend dem Steinway eingeschrieben, so dass sich die Frage nach einem historisch richtigen „Clavier“ überhaupt nicht stellte. Natürlich auch mit Verwendung des Pedals – so hätte möglicherweise Bach selbst seine Ideen verwirklicht, wäre damals ein entsprechender Flügel schon erfunden gewesen.
Die gedankliche Versenkung, Anregung an die Zuhörer, die Musik in sich nachklingen zu lassen – das stand András Schiff sichtbar ins Gesicht geschrieben und löste sich erst zögerlich zu einem Lächeln. Das nachgereichte Thema der „Goldberg-Variationen“ BWV 988: Das brauchte er möglicherweise selbst, um sich aus der vorangegangenen Anspannung zu lösen. Sie wird Schiff und seine Zuhörer am zweiten Abend gewiss auch auch wieder in Bann ziehen.