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Ein halbes Jahrhundert lang ins Neue aufgebrochen

REST DER WELT / GRAZ / MUSIKPROTOKOLL

05/10/17 Nostalgische Gefühle können schon wach werden, wenn in diesen Tagen das „musikprotokoll“ beim steirischen herbst in Graz sein 50-Jahre-Jubiläum feiert. Da findet man sich als Musikjournalist, der mit diesem Festival quasi groß geworden ist, plötzlich als Zeitzeuge... Ein paar Erinnerungen.

Von Reinhard Kriechbaum

Es waren also die „wilden“ 1968er. Der Schreiber dieser Zeilen, gerade in der Pubertät, war da (leider) selbst noch nicht „handlungsfähig“ – aber die Ohren hineinhalten in eine Initiative, die eben diese auf ganz neue Art kitzelte, das war angesagt. György Ligeti war schon im ersten Jahr leibhaftig da, sein „Lux aeterna“ gehörte zu den ersten „musikprotokoll“-Tönen. Auch Friedrich Cerha war ein Mann der ersten Stunde. Es war wirklich Neue Musik. Total neue. Daneben gab es aber auch hinlänglich Aufholbedarf, bis ins späte 19. Jahrhundert zurück: So galt eines der frühen „musikprotokolle“ der Klaviermusik von Skrjabin. Auch Komponisten wie Franz Schreker harrten der Wiederentdeckung und wurden quasi „nachgeholt“.

Ganz Vieles und sehr Unterschiedliches war also ziemlich neu, nicht nur fürs Grazer Publikum. Ernst Krenek lebte noch und reiste 1969 aus der Neuen Welt an. 1971 war Pierre Boulez da (damals ein Mittvierziger). Krzysztof Penderecki war knackige vierzig bei seinem ersten Graz-Auftritt als Dirigent und Komponist. Witold Lutoslawski ließ nicht lange auf sich warten und Anestis Logothetis ebenso wenig. Was für Jungspunde waren damals noch Otto M. Zykan und HK Gruber! Nicht nur sie griffen in ihrer Musik den Wiener Aktionismus auf. Klavierzertrümmerer machten sich ans Werk und nicht nur Mauricio Kagel bot unorthodoxe Klangerzeugung zum Hören und Schauen.

Ein Fixpunkt des meist vier- oder fünftägigen Festivals waren über viele Jahre Konzerte mit elektronischer Musik in der Franziskanerkirche: Was waren das für Zeiten, als Bastler Tonbänder schnipselten und Klebestreifen ungefähr so wichtig waren wie die Kreativität. Jedes Handy leistet heute mehr als all die Gerätschaften, die einen Parterre-Raum in der Grazer Musikhochschule bis obenhin füllten. Welche Mühe, im dortigen Institut für elektronische Musik aus röhrengenerierten Sinustönen irgendetwas ohne Brummen und Knacksen zuwege zu bringen!

Fast Verwunderung kommt auf, wenn man auf diese Anfangsjahre zurückblickt. Da gab es also in der „tiefschwarzen“ Steiermark einen Volkskundler als Kulturlandesrat – Hanns Koren – der ausgerechnet ein Avantgardefestival (den steirischen herbst) auf seine Fahnen heftete. Der steirische ORF-Intendant Emil Breisach und der Leiter der Abteilung Ernste Musik, Karl Ernst Hoffmann, brachten ihrerseits das „musikprotokoll“ auf den Weg. Damals leisteten sich die Landesstudios noch eigene Projektchöre und -orchester (Pro Arte Ensemble hießen sie in Graz). Das RSO war jedes Jahr da.

„Trigon“, also der Ländervergleich auch mit Slowenien/Jugoslawien und Ungarn, war ein Gedanke, der auch aufs musikprotokoll abfärbte. Vinko Globokar oder Milko Kelemen standen in den 1970er Jahren hoch in Kurs. Die (konzertante) Uraufführung von Kelemens Oper „Apokalyptica“ war eine technische Herausforderung, denn mit Hilfe einer Metronom-Tonspur wurden die einzelnen Vokal- und Instrumentalgruppen vorab aufgenommen und all diese Teile mussten in der Aufführung einigermaßen synchron sein (oder hätten zumindest sein sollen). Das war 1982, als die IGNM, die Internationale Gesellschaft für Neue Musik, ihr Weltmusikfest in Graz abhielt. Da hatte das musikprotokoll schon ein vergleichsweise biblisches Alter von 25 Jahren erreicht...

Der Schreiber dieser Zeilen hatte das Glück, als Student bei Karl-Ernst Hoffmann ziemlich nah dran zu sein am Festival, an der Genese der einzelnen Programme und an so mancher Produktion. Eine fast berührende Erinnerung: 1981 war Alfred Schnittke (1934-1998) im Westen noch so gut wie unbekannt. Wie seine Partituren nach Graz bekommen, da doch der Geheimdienst über Schnittke wachte? An eine Ausreise war sowieso nicht zu denken. Es galt, die Zensur zu umgehen. Man löste das so, indem man Schnittke unverfängliche Beethoven-Klaviersonaten nach Moskau schickte. Der Komponist band sie mit eigenen Partiturseiten neu ein und schickte sie zurück. Keiner hat's bemerkt. In Graz wurden die Seiten aneinander geklebt, die Zensur war ausgetrickst... Das war, wohlgemerkt nicht in tiefsten Stalin-Zeiten, sondern acht Jahre vor dem Ende der Sowjetunion!

Viel müsste man erzählen von fünfzig Jahren Musikprotokoll. Da spiegelte sich die „Machtübernahme“ der seriellen Komponisten ebenso wie das allmähliche Leerlaufen dieser Richtung. Wie sich die Jungen Wilden in der Malerei emanzipierten, wurde die Neue Musik wieder handfester. Bis man das als „Postmoderne“ musikhistorisch kategorisierte, dauerte es eine gute Weile und das Entsetzen manch progressiver Geister war ansehnlich, als wieder und immer öfter Dreiklänge von den Podien tönten. Klar: Olga Neuwirth, Georg Friedrich Haas (ein Grazer), Beat Furrer waren im musikprotokoll gegenwärtig

Gestern, Mittwoch (4.10.) hat also das fünfzigste musikprotokoll begonnen. Man bezog sich aufs Eröffnungskonzert vor einem halben Jahrhundert, auf Ligetis „Lux aeterna“, und gab einen Werkauftrag an Peter Jakober (Jahrgang 1977), der in Graz Komposition studiert hat. Ferdinand Schmatz lieferte das Libretto für ein gut dreiviertelstündiges Chorwerk – „Primen“ – mit Rezitation. Zwölf Chorgruppen (mit je einem Subdirigenten) rund um die Zuhörer aufgestellt. Dazu Bratsche, zwei Celli, Kontrabass. Der Poet am Lesetisch im Zentrum.

Durch solche Raumklang-Experimente muss jeder Komponist mal durch und das Publikum auch alle paar Jahre. Dass das Rad in periodischen Abständen neu erfunden wird, zeichnet nicht nur das musikprotokoll aus. Aber es war ein sinnliches Auftakt-Konzert, fast einlullend in den Chorklängen. Über den Text, der den Abstand der Epigonen zu Elfriede Jelinek recht deutlich machte, reden wir lieber nicht. Fein, dass sich der ORF immer noch das musikprotokoll leistet. Allein die Aufzählung von Komponistennamen bei der Eröffnung durch Elke Tschaikner und Christian Scheib dokumentierte eindrucksvoll, wie wichtig dieses Engagement ist.

Das musikprotokoll dauert bis Sonntag, 8.10., der steirische herbst bis 15.10. – musikprotokoll.orf.at; www.steirischerherbst.at
Bilder: steirischer herbst

 

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