Wie es im alten Bewegungs-Buch steht
REST DER WELT / ZÜRICH / UR-SCHWANENSEE
11/02/16 Alexei Ratmansky hat die Schwanensee-Choreographie von Marius Petipa und Lew Iwanow für das Ballett des Opernhauses Zürich und der Mailänder Scala entstaubt. Man reibt sich zum Teil die Augen.
Von Oliver Schneider
So wie die Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis den Staub von der Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts entfernt haben, musste man diesen auch einmal vom Ballettklassiker schlechthin wegwischen. Alexei Ratmansky, der von 2004 bis 2008 die Leitung des Bolschoi-Balletts innehatte und heute als resident choreographer des American Ballet Theatre zu den gefragtesten Choreographen gehört, hat sich in Zürich dieser Aufgabe mit Erfolg gestellt.
Er rekonstruierte die Original-Choreographie auf der Basis von Wladimir Stepanows Bewegungsnotationen. In ein erweitertes musikalisches Notensystem hat Stepanow, der selbst Balletttänzer war und später Anatomie studierte, die Positionen von Kopf, Torso, Armen, Beinen sowie deren rhythmische Bewegungen eingetragen. Nicht nur für Schwanensee, sondern für das gesamte Repertoire des Kaiserlichen Balletts in Sankt Petersburg. Nicht notiert sind Gestik, Mimik und die Positionen der Oberkörper; hier musste Ratmansky auf weitere Quellen zurückgreifen.
Was ist bei Petipa/Iwanow anders als bei Rudolf Nurejew oder Heinz Spoerli? Die Pantomimen nehmen einen viel wichtigeren Platz ein als gewohnt. Der Zürcher Kompagnie merkt man auch an, dass sie sich auf für sie (noch) ungewohntem Terrain bewegen. Prinz Siegfried darf erst im zweiten und dritten Akt zeigen, wie viel Sprungkraft und Dynamik er besitzt. Bis dahin müssten seine Gesten sprechen, oder er muss der Schwanenkönigin Odette die nötige Stütze bei ihren grazilen Pirouetten bieten. Denis Vieira, der Siegfried in der besuchten zweiten Vorstellung – fühlte sich am Sonntag in dieser Rolle nicht hundertprozentig wohl und lief erst im letzten Akt als tragisch Liebender zur Höchstform auf. Ungewohnt im ersten „weißen“ Bild ist auch der Pas de trois, in dem Siegfried und sein Freund Benno (ausdrucksstark Andrei Cozlac) abwechselnd der Odette von Anna Khamzina zur Seite stehen. Khamzina alterniert in der Doppelrolle Odette/Odile mit Viktorina Kapitonova.
Anders als in bearbeiteten Versionen, dominieren in der Urfassung die Damen den Abend. Die Schwäne in romantischen Tutus – und nicht in steif abstehenden Tüllröcken – imitieren noch nicht mit ihren Armbewegungen den Flügelschlag der Tiere, sondern neigen sich stattdessen immer wieder mit diagonalen Armlinien zum Boden hin. Man hat den Eindruck, dass die Tänzerinnen und Tänzer ganz generell immer wieder Kraft aus dem Boden nehmen, was insgesamt zu langsameren Bewegungen führt. Die wiederum genau mit der Tschaikowskys unsterblicher Musik harmonieren. Und langsamere Bewegungen auf der Spitze und in den Sprüngen bedeuten nicht weniger Anstrengung für die Tänzer. Im Gegenteil, kraftmässig sind sie mehr gefordert. Doch ihr Tanz wirkt gemeinsam mit den Pantomimen „natürlicher“, weniger virtuos, weil auch ein Walzer am Ball nicht auf Spitze getanzt wird oder die Körperlinien nicht überstreckt sein müssen. Die Valse champêtre im ersten Bild des ersten Aktes an Prinz Siegfrieds Geburtstagsfest wirkt schon ein bisschen derb. Spitzen- und Charaktertanz sind weniger streng getrennt und vermischen sich immer wieder.
Jerôme Kaplan hat auf der Basis der Notationen mit Prospekten die klassischen Handlungsschauplätze und Kostüme entworfen. Eine pittoreske Parklandschaft geschaffen, die romantische Stimmung am See eingefangen und schliesslich einen frühneuzeitlichen Ballsaal entstehen lassen, in dem sich Prinz Siegfried von der schwarzen Odile und dem bösen Zauberer Rotbart täuschen lässt und der falschen Braut ewige Treue schwört.
Das Publikum jubelte den Solisten und der technisch hervorragenden Kompagnie mit Recht zu. Das Orchester unter Rossen Milanov ließ leider die nötige Eleganz vermissen und spielte auch nicht durchweg mit der nötigen Konzentration.