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Ein Fragment als Ganzes

CD-KRITIK / MAHLER / SYMPHONIE NR. 10

18/05/11 Als Gustav Mahler vor nunmehr 100 Jahren, am 18. Mai 1911, starb, fanden sich im Nachlass „Das Lied von der Erde“ und die Sinfonie Nr. 9. Beide wurden bald darauf uraufgeführt. Von einer "Zehnten" ist nur der instrumentierte erste Satz erhalten und der dritte, den Arnold Schönbergs Schwiegersohn Ernst Krenek vervollständigt hat.

Von Horst Reischenböck

Sowohl Schönberg wie Dmitri Schostakowitsch lehnten eine Rekonstruktion der gesamten Symphonie ab. Erst Deryck Cooke begann für Mahlers 100. Geburtstag (1960), das Konvolut an weiteren Skizzen spielbar aufzuarbeiten. Wie akribisch und skrupulös er dabei vorging, lässt sich nun an Hand einer BBC-Sendung vom 19. Dezember 1960 nachhören: Der Engländer selbst am Klavier, das Philharmonia Orchestra illustriert seinen Einführungstext. Das Skript gibt’s im Computer als PDF-Datei nachzulesen. Und es wird die nach wie vor unvollständige Version unter Leitung von Berthold Goldschmidt nachgereicht.

Weitere Jahre sollten vergehen, bis eine vollständige Aufführungsfassung der großen Bogenform, an der auch der als „entartet“ aus Deutschland geflohene Dirigent Berthold Goldschmidt sowie die Brüder Colin und David Matthews mitgearbeitet hatten, erstmals vorgestellt wurde. Am 13. August 1964 zusammen mit dem London Symphony Orchestra während eines Konzert im Rahmen der Proms in der Royal Albert Hall. Auch dieser Live-Mitschnitt in Mono steht nun dankenswerterweise zur Verfügung.

In Stereo waren's dann im Jahr darauf Eugene Ormandy und das Philadelphia Orchestra, die mit Cookes Fassung ins Studio ging. Riccardo Chailly, damals Chef des RIAS Sinfonieorchesters Berlin, bediente sich ihrer 1986 genauso und führte die "Zehnte" mit dem Koniglijk Concertgebouw Orkest auch beim Brucknerfest 2000 in Linz auf. Ein weiterer Mentor ist Sir Simon Rattle, der sie auch schon 1980, damals mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra erstmals aufnahm. Mittlerweile liegt ein weiterer, 1999 entstandener  Konzertmitschnitt mit den Berliner Philharmonikern vor.

Doch es existiert eine Fassung, die Mahlers Intentionen, sozusagen seinem „letzten Willen“, vielleicht noch mehr entspricht: nicht zuletzt, weil in manchen Details harscher, ungeschönter. Rudolf Barschai studierte Komposition bei Schostakowitsch, dessen Streichquartette Nr. 4, 8 und 10 er später transkribierte. Mariss Jansons Vater Arvid machte ihn in den fünfziger Jahren mit einer durch Hermann Scherchen gestalteten Aufnahme des eröffnenden Adagios der Zehnten bekannt. Das regte Barschai an, eine eigene, eigenständige Version der Skizzen zu den anderen Sätzen zu erstellen.

1977 in den Westen emigriert, wurde Barschai zu einem der prominentesten Mahler-Dirigenten und realisierte 2001 im Konzerthaus Berlin seine Version mit der Jungen Deutschen Philharmonie, die ihm dabei mit vollem Einsatz folgte. Das Hören lohnt nicht nur für Kenner.

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 10
Deryck Cookes Vortrag 1960 und 1964 Premiere bei den London Proms. Philharmonia Orchestra & London Symphony Orchestra, Dir: Berthold Goldschmidt. TESTAMENT 3 CDs SBT3 1457 - www.testament.co.uk
Junge Deutsche Philharmonie, Dir.: Rudolf Barschai. BRILLANT CLASSICS CD 94040 - www.brilliantclassics.com

 

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