Nur Gott kennt alle YouTube-Videos
LITERATURFEST SALZBURG
26/05/14 Das Motto des Abends „Sprach:Bewältigung“ wurde am Freitag (23.5.) zur realen Herausforderung: Viereinhalb Stunden abzüglich Pausen galt es lauschend auf den Sitzknochen auszuharren. Anders war es allerdings auch nicht zu erwarten, denn eine solche Bandbreite an Literatur braucht eben ihre Zeit.
Von Magdalena Stieb
Der dritte Abend beim Literaturfest Salzburg in den Kavernen 1595 war zweigeteilt: Zu Beginn lasen Sibylle Lewitscharoff, Clemens J. Setz und Thomas Stangl und fanden sich im Anschluss auf weichen Fauteuils mit Robert Weichinger (Ö1) zum Gespräch zusammen. Weniger an bequemen Formen der Gesprächskultur orientiert verlief der zweite Teil: Zwei Künstlerkollektive aus Salzburg und Berlin zeigten, wohin Literatur auch gehen kann.
Zu bewältigen galt es für die Autoren gemeinsam mit Robert Weichinger recht ernste Dinge: Die Frage nach der Möglichkeit oder Vorstellung eines Paradieses wurde zwischen die weichen Lehnstühle geworfen, die Runde durfte sich an dem ausgreifenden Thema abarbeiten und konnte in der regen Diskussion bisweilen nicht ruhig auf den Polstern sitzenbleiben. Schon die drei prägnanten Lesungen von Sibylle Lewitscharoff, Clemens J. Setz und Thomas Stangl ließen ein nicht ganz widerspruchsfreies Gespräch erwarten.
Anstatt wie angekündigt in vorläufigen Ergebnissen ihrer Schreibwerkstatt zu kramen und aus einem unveröffentlichten Text zu lesen, wählte Lewitscharoff „Consummatus“ (bei DVA, 2006). Unnötig zu erwähnen, dass sie wie immer mit idiomatischem Charme aus diesem Roman und der darin herrschenden sprachlichen Schärfe und nicht witzlosen Abgründigkeit ein Erlebnis für den Zuhörer machte.
Ganz anders kamen die neuen Texte von Clemens J. Setz daher: Nach Romanen und Erzählungen fügt der junge Autor jetzt seine Fundstücke in eine neue Form und sammelt die Ergebnisse in „Die Vogelstraußtrompete. Gedichte“ (erschienen 2014 bei Suhrkamp). Freilich, so meint Setz, kann man das Etikett „Gedicht“ für seine Texte auch ablehnen, damit habe er kein Problem. Fundstücke aus Internet, Fernsehen, Geschichte, Literatur und „Interpretationen“ in losen Zeilen also, die sich durchaus nicht einfach unter der Gattungsbezeichnung „Lyrik“ subsummieren lassen.
Mit seinem Roman „Regeln des Tanzes“ (veröffentlicht 2013 bei Droschl) machte der Wiener Autor Thomas Stangl den Abschluss. Mit unverwechselbarem Sprachsog erzählt Stangl in seinem politischen Roman die Leben dreier Figuren und die von ihnen erfahrenen Untiefen nach.
Ein Abend der Vielstimmigkeit und der Gegensätze: Im anschließenden Gespräch mit Robert Weichinger wurde die alte Dichotomie Paradies – Hölle aufs Tapet gebracht. Während Lewitscharoff den Gegensatz von Paradieses- und Höllenvorstellungen in vielen Religionen als zutiefst im menschlichen Denken verwurzelte Konstante und Notwendigkeit betrachtet und für ihre persönliche Weltanschauung und auch ihre literarische Arbeit in Anspruch nimmt, kann Thomas Stangl Formen einer endgültigen Jenseitsvorstellung keine ästhetisch produktive Kraft abgewinnen. In einer erfüllten Utopie, wie sie ein tatsächlich existierendes Paradies verspricht, könne nur Gleichförmigkeit aufkommen. Clemens Setz assoziiert mit dem Begriff des Paradieses und des Jenseits wiederum sehr wohl eine konkrete Vorstellung: Eine Welt ohne Menschen, „das Leben nach dem Tod gibt es schon, nur halt ohne mich“.
Während Lewitscharoff als Autorin aus dem Bildreichtum der religiösen Vorstellungen reich schöpfen kann (wie sie es in einem neuen Text zu Dante zeigen wird), meint Setz, dass die Bilderflut des Internets keine Hoffnung mehr zulässt: Wenn wir zu jeder Zeit alles wissen, was überall auf der Welt passiert, bleibt nichts mehr übrig und man wird jeder Hoffnung „entwöhnt“. Solchen Vorstellungen der von den neuen Medien verschuldeten Hoffnungs- und Trostlosigkeit bleibt Stangl nur lapidar entgegenzuhalten: „Gott ist der Einzige, der alle YouTube-Videos gesehen hat.“
Nach humorvoll und geistreich ausgeloteten Tiefen der menschlichen Existenz und einer Umbaupause gehörte die Bühne der nächsten Generation: Zwei völlig gegensätzliche Formen der literarischen künstlerischen Produktion – den singulären, schreibenden Autor löste das gemeinschaftlich produzierende Kollektiv ab. Unter dem Titel „Berlin:Hanuschplatz“ lud das Salzburger Kollektiv „Bureau du Grand Mot“ Kollegen aus Berlin, das Lyrikkollektiv „G13“, zur österreichischen Premiere beim Literaturfest. Nach der letzten performativen Aktion des „Bureau du Grand Mot“, bei der die erste Publikation in Buchform („warten auf das große wort“, 2013, Edition Tandem) präsentiert wurde, setzte die Gruppe diesmal stärker auf Bild und Ton, die Texte der jungen Autorinnen Marlen Mairhofer und Sarah Eder wurden zu Versatzstücken in der Inszenierung. Mit großen Gesten, die so ziemlich jedes Element der Performance in seiner ursprünglichsten Form einzubinden wusste – es wurde gegen das Scheinwerferlicht andeklamiert, aus dem Publikum gesprochen und gerufen, die Videowand bespielt, der Zuschauerraum mit Soundcollagen beschallt etc. –, versuchten sich die Salzburger an einer kritischen Definition eines sogenannten „Kunstkollektivs“.
Zu später Stunde dann die kollektive Draufgabe: Das schon seit 2009 bestehende Lyrikkollektiv „G13“ präsentierten ihren Text „das war absicht“ und beschloss das kontrastreiche Programm. Für einen kleinen Obolus hatte der Zuhörer und -schauer die Möglichkeit, sich mittels eines kleinen Heftchens den dort abgedruckten Text nach all der performativen Aufregung noch einmal zuzuführen.
Rund 2500 Zuhörer zählte man an den fünf Tagen des Literaturfests Salzburg (21.–25. Mai), das am Sonntag mit einer musikalischen Matinee zu Ende ging: Begleitet vom Gitarristen Agustín Castilla-Ávila stellten Nora Bossong, Dirk von Petersdorff und Ron Winkler ihre aktuellen Gedichtbände vor. „Auch wenn manche den Veranstaltungstypus Lesung veraltet finden, so weist der Zuspruch, den man beim Literaturfest beobachten konnte, darauf hin, dass die Anziehungskraft der Autoren als Literaturvermittler ungebrochen ist“, freut sich Jochen Jung, der gemeinsam mit Christa Gürtler und Klaus Seufer-Wasserthal für das Programm verantwortlich zeichnet.