Vom Schengen-Visum und dem Traumdeuten
IM PORTRÄT / NATALKA SNIADANKO, KATERYNA BABKINA
26/04/17 Die Heldinnen von Natalka Sniadanko und Kateryna Babkina sind junge ukrainische Frauen, die die Grenzen der bekannten Welt überschreiten und denen ein mühsam ergattertes Schengen-Visum die Tore öffnet, um lustige, skurrile oder gefährliche Abenteuer zu erleben.
Die beiden Schriftstellerinnen eröffnen heute Mittwoch (26.4.) das Ukraine-Festival („Europa der Muttersprachen“) im Literaturhaus Salzburg.
Chrystyna aus „Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen“ (Haymon, 2016) ist eine Musiklehrerin aus Lemberg, die in Berlin als Putzfrau arbeitet. Ihre Freundin, die Harfenspielerin Solomija, pflegt eine alte Frau. Sniadanko schildert die sozialen Missstände ironisch, aber tiefgründig aus den Augen der klugen und weltoffenen weiblichen Protagonistinnen. Neu bei Haymon verlegt wurde jetzt ihr erster Roman „Sammlung der Leidenschaften“ (geschrieben 2001, 2007 erstmals auf Deutsch herausgekommen) – eine humorvolle Geschichte der Liebesbeziehungen und der Emanzipation einer‚galizischen Frau‘ in Lemberg und Freiburg. Ganz nebenbei werden Lebensgeschichten und Lebensentwürfe von unterschiedlichen Menschen erzählt – Gastarbeiterinnen in Griechenland und Deutschland, Migranten, der europäischen Linken, einer alten ukrainischen Bäuerin, die bei ihrem Sohn ihre letzten Jahre in Deutschland verbringt, Schmugglerinnen an der ukrainisch-polnischen Grenze, die auch auf Deutsch sprachlich wunderbar authentisch und vielfältig wiedergegeben werden.
Die Grenzgängerei zwischen ihrem Geburtsort Lemberg und Freiburg im Breisgau kennt Natalka Wolodymyriwna Sniadanko (Jahrgang 1975) aus eigener Erfahrung: Die ukrainische Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin hat an der Iwan-Franko-Universität in Lemberg und in Freiburg im Breisgau studiert. Ihr Debütroman Sammlung der Leidenschaften erschien 2001.
Die 32jährige Kateryna Babkina ist nicht nur Literatin sondern auch Filmemacherin. 2012 realisierte sie unter dem Titel „Das Böse“ im Rahmen des größeren Kinoprojektes junger Künstler „Ukraine goodbye“. Ihr zweiter Kurzfilm „Die Gelbe Box“ aus dem Jahre 2013 wurde wegen seiner anarchistischen politischen Aussage, der Liquidierung von neureichen verbrecherischen Unternehmern, zunächst mit einem öffentlichen Aufführungsverbot belegt.
Wie andere ukrainische Autoren schöpfte sie aus ihren zahlreichen Reisen und Begegnungen. Die Texte der quirligen und engagierten jungen Schriftstellerin sind öfter von Wehmut und Ironie geprägt und gelegentlich von einem Hauch von früher Bitterkeit durchzogen.
Die Suche nach ihrem Vater führt auch Sonja im Roman „Heute fahre ich nach morgen“ (Haymon, 2016) über die Grenze nach Polen, Berlin, zu Schmugglern an der albanisch-montenegrinischen Grenze etc. „Manchmal bekommst du auf dem Tablett eine zweite Chance serviert, direkt und lange ersehnt, ein Schengen-Visum mit Arbeitserlaubnis zum Beispiel oder die Fähigkeit, Träume zu deuten in einem Heim hoch in den Bergen.“ Kateryna Babkina, die vorher als Lyrikerin bekannt war, gilt mit ihrem ersten Roman eine der größten Entdeckungen in der Literatur der letzten Jahre in der Ukraine. (Literaturhaus/dpk-krie)