Bei einem Ohr rein, beim anderen raus
KOMMENTAR
Von Reinhard Kriechbaum
22/07/23 Nein, es gehört sich nicht, eine Festspielpremiere zu stören. Wirklich nicht. Und ja, es ist trostreich miterlebt zu haben, wie rasch Störenfriede rauskomplimentiert werden aus dem Großen Festspielhaus. Aber man muss anerkennen: Diese jungen Leute haben ihre Finger punktgenau auf eine offene Wunde gelegt.
Was genau ist geschehen? In Michael Sturmingers neuer Inszenierung des Jedermann wird uns die Titelfigur als einer dieser Betonköpfe vorgeführt, die Zeichen der Zeit nicht erkennen und Folgen dieser Beharrlichkeit nicht sehen wollen. Er schwimmt in dem Geld, das für ihn und seinesgleichen „arbeitet“. Aber vor seinem Haus schaut's zapfenduster aus. Mit der Natur und mit den Menschen.
Der Regisseur hat in den ersten Szenen die sozialen Verwerfungen der Zeit anschaulich gemacht. Bettler gehen um, stehlen aus Verzweiflung noch das Wenige, was die aus Jedermanns Haus geworfene Familie des Schuldknechts mit sich hat nehmen können. Protest-Sprayer haben sich an der Fassade von Jedermanns Haus abreagiert.
Dass sich die dekadente Tischgesellschaft ausgerechnet dort draußen versammelt, kann nur als Missachtung einer neoliberalen Mischpoche aus Präpotenz, Trägheit oder Dummheit diesen armen Teufeln gegenüber gewertet werden.
Dieses Theater ist sehr nahe an unserer Gesellschaft. Wenn der Salzburger KPÖ-Chef Kay Michael Dankl dieser Tage erst billigere oder gar kostenlose Jedermann-Vorstellungen gefordert hat, meint er genau das. Die jungen Aktivistinnen und Aktivisten der Jungen Generation, die sich am Freitag (21.7.) im Großen Festspielhaus lautstark zu Wort gemeldet haben, zielten in ähnliche Richtung.
Es ist ja einfach, bei Programm-Pressekonferenzen über die politische Relevanz von Kunst zu palavern. Im günstigen Fall lösen Regisseurinnen und Regisseure solche Anliegen auch ein. In den Festspielhäusern sitzen dann letztlich doch die Wohlhabenden, die am allerwenigsten Interesse daran haben, dass sich irgendetwas zum Besseren, zum sozial Gerechteren verändert. Für dieses Publikum gilt dann: Bei einem Ohr rein, beim anderen raus.
Insofern muss man den Hut ziehen von den jungen Leuten. „Wir alle sind die letzte Generation“, haben sie in den Raum geschrien. In Wirklichkeit saßen da freilich doch mehrheitlich Menschen der vor- und vorvorletzten Generation, aber denen schadet eine Live-Ermahnung schon gar nicht. Die Intervention bei ihnen wirkt halt nicht ganz so akut und nachhaltig wie beim Jedermann.
Jedenfalls haben Bernhard, Erika und Koso (so stellen sie sich auf Twitter vor) das Ziel und vor allem den Zeitpunkt ihrer Intervention sehr bewusst ausgewählt. Gerade, als die Tischgesellschaft Platz genommen hatte. Einer von ihnen sagt auf Twitter, die Kraft des Theaters liege darin, dass es einen Perspektivewechsel möglich macht. Stimmt, aber die Möglichkeit will auch genutzt sein. Gut, dass einer auch sagt: „Ich hab das Gefühl, ich muss mich da reinsetzen und schreien, wie schlimm es ist.“ Weil er nicht wisse, was er sonst tun soll, und weil es für alles andere zu spät sei.
Das habt ihr jedenfalls gut gemacht, ihr Jungen! So gut, dass viele – auch der Schreiber dieser Zeilen – noch am Morgen danach der Meinung waren, die Sache habe zur Inszenierung gehört. Die Aktion war punktgenau getimt. Es ist also nicht so, dass diese jungen Leute sich nur als Natur- und Menschenschützer gerieren. Sie haben sogar vom Jedermann dramaturgisch eine Ahnung. Kompliment!
Der Twitter-Link zum Statement der Aktivisten
Jedermann bei den Festspielen
Zur Besprechung Der Glaube wenigstens ist „guter Hoffnung“