Feinjustierer an den Orchester-Schrauben
FESTSPIELE / BERLINER PHILHARMONIKER (2)
29/08/23 Man mag sich gar nicht ausmalen, wie sich die Uraufführung von Arnold Schönbergs Variationen für Orchester op. 31 angehört haben mag. Nur drei Proben nahm sich Wilhelm Furtwängler damals Zeit für die Einstudierung, im Dezember 1928 in Berlin.
Von Reinhard Kriechbaum
Der Komponist argwöhnte damals, die vehemente Ablehnung durchs Publikum sei weniger der noch neuartigen Zwölftontechnik geschuldet, als der mangelhaften Vorbereitung. Vielleicht hatte er recht. Dieses Stück am Montag (28.8.) im Mittelpunkt des zweiten Konzert der Berliner Philharmoniker ist ein funkelndes, ja gleißendes Schmuckstück. Der größeren Form nach hat Schönberg ja neun Variationen plus Finale geschrieben, in Wirklichkeit aber ein reichhaltiges Panoptikum von kurzen Episoden.Von einem „Album mit Ansichten eines Ortes, der … einzelne Punkte zeigt“, hat er in einer als Tondokument erhaltenen Werkeinführung gesprochen.
Bei wem wäre man besser beraten als bei Kirill Petrenko, wenn man einen Führer sucht durch diesen Ort mit seinen an Details so reichhaltigen Sehenswürdigkeiten? Das Filigran macht's ja aus in diesem Stück, und Petrenko ist ein famoser Feinpolierer. Oder sagt man besser: ein begnadeter Feinjustierer, der wie wenige andere an den Stellschrauben so gefühlig zu drehen weiß, dass sich ein gar wunderbarer reibungsfreier Lauf in der großen Orchester-Mechanik ergibt?
Die Variationen für Orchester zeichnen sich nicht zuletzt durch die Instrumentationskunst aus. Ungaubliche Zusammenklänge und Ton-Reihenfolgen von gediegen sich wandelndem Chroma – das hat Petrenko mit der ihm eigenen Akkuratesse so herausarbeiten lassen, dass einen die Sinnlichkeit direkt angesprungen ist. Der Riesenbesetzung des Orchesters scheint der Gestus der Musik zu widersprechen – es ist Kammermusik pur mit allen Finessen der Klangfarben, denen man an diesem Abend gebannt nachlauschen durfte.
Schönberg selbst hat dieses Werk in einem historischen Zusammenhang auch mit den Haydn-Variationen von Brahms sehen wollen. Es war also schlüssig, dieses Stück vorauszuschicken. Auch daraus formten Petrenko und die Berliner Philharmoniker Abwandlung für Abwandlung Musterbeispiele luzider Lichtführung. Wenn Petrenko Brahms dirigiert, wabert überhaupt nichts dicklich, sondern zeigt eher klassizistisch ausgeformten Zierrat. Man denkt unwillkürlich an Parallelen in der Architektur, an Ringstraßen-Bauwerken.
Wie fügte sich zuletzt Beethovens Achte Symphonie in das Programmgefüge? Das, wenn man will, bukolische Gegenstück zur Siebten taugt in ihrer Konzentriertheit durchaus als Gegengewicht zu den Haydn-Variationen, zumal sich Petrenko als wahrer Feuergeist betätigte. Immer wieder verblüffend, wie er aus gediegen tänzerischen Motiven das Schroffe herausbrechen, aber auch rabiate Wendungen wieder „einfangen“ lässt. Artistische Luftsprünge mit Landungen auf Zehenspitzen? Sein Tempo fürs Thema des Metronom-Kanons im Allegretto scherzando überschriebenen zweiten Satz? So schnell sind mechanische Uhrwerke damals tatsächlich gelaufen. Mit 26 Minuten mag man an diesem Abend für diese Symphonie zwar keinen absoluten Geschwindigkeitsrekord aufgestellt haben, aber an Kurzweil war diese ur-musikantische Interpretation kaum zu überbieten.
Bild: Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus