Radausflug auf Ecstasy
WINTERFEST / CIRCA TSUICA
06/12/18 Mit unglaublichem Getöse und „schwerem Blech“ auf Fahrrad lädt der Circa Tsuica zuerst einmal ins Getümmel und ans kalte Buffet im Zirkusrund. Der Wein fließt, rot und weiß, aus der Pauke. Warum nur hat es vorher geheißen „nicht die Manege kreuzen“? Das Publikum fühlt sich integriert – und kommt den ganzen turbulenten Abend lang immer wieder zum Handkuss.
Von Heidemarie Klabacher
Hut ab vor dem jungen Mann aus dem Publikum: Sich aus zwei Metern Höhe rücklings in die ausgetreckten Arme einer Reihe Wildfremder – und seien es Artisten – fallen zu lassen, ist echt mutig. Mit den Artisten tanzen, auch wenn diese über die Schulter ihrer Neo-Partnerinnen hinweg Posaune, Sax und Trompete spielen oder diese ins Susaphon verwickeln, erfordert viel weniger Tapferkeit. Sich in eine ménage à trois, sei es gleich- oder gemischtgeschlechtlicher Natur, verstricken zu lassen, ist wiederum ein wenig heikel. Immerhin werden die frisch Verführten nur mit keuschen Stirnküssen bedacht und nicht abgeknutscht.
Für die französische Truppe Circa Tsuica gehört die Integration des Publikums zum Konzept. Viel besser ist es, wenn sie selber Rad fahren. Das tun sie mit Leidenschaft und erstaunlichem Einsatz. Sechs Personen übereinander auf einen über den Lenker gebeugten Radrennfahrer gestapelt - da ist noch gar nichts. Richtig dramatisch wird es erst, wenn sie auch Bassflügelhorn, Klarinette und Pauke mit hinauf nehmen und rasant herumradelnde, einen Höllenlärm verursachende Menschentürme bilden. Das ist es auch schon, woraus die Produktion Maintenant ou Jamais besteht: Extrem-Radeln. Die urkomische Anleitung zum Fahrradsex nicht zu vergessen.
Einzelne artistische Einlagen, sei es mit dem Schleuderbrett, am Trapez oder mit Handstand-Equilibristik, hat man (wenn letzteres auch noch nicht mit Sternenunterhose unter herabfallendem Kilt) technisch schon viel ausgefeilter gesehen. Darum scheint es der Wilden Jagd von Circa Tsuica aber auch gar nicht zu gehen. In korrektem Anzug mit Krawatte, Faltenrock und Kilt mit Pullunder agieren sie wie eine Internatsbelegschaft auf Ecstasy. Das hat ungeheuren Witz. Der Höllenlärm ist von den Künstlern eigenhändig produzierter Brass Band-Sound, musikalisch gar nicht so schlecht – nur in all dem Getöse und Geschrei und Gesinge hört man vor lauter Lärm die Musik eigentlich nicht. Man hofft nur auf eine Sekunde Auszeit.
Diese Ruhepause kommt auch. Allerdings wünscht man sich nach der Episode mit den getöteten Singvögeln doch lieber wieder den harmlosen Lärm zurück: Drei oder vier der Artisten haben plötzlich Machtrausch, setzen schwarze Sonnenbrillen auf und treiben die restlichen Kollegen in einen Gitterkäfig, worin diese auch versterben. Ein deutliches Buh entkam dem spürbar verblüfften Publikum, nachdem die leblos über die Stangen hängenden Körper nicht wieder – mit einem Scherz – zum Leben erweckt wurden. Es kam schlimmer. Die Lungen der „Leichen“ werden als Blasebalg gedeutet: Wenn man auf den Oberkörpern herumtrampelt, kommt Luft heraus und trötet in ein Blasinstrument. Diese ungeheuerliche Geschmacklosigkeit lässt sich noch steigern, wenn man Luftschläuche ans andere Körperende hält.
Bald darauf war es auch schon aus. Erholt hat sich die Produktion von der unsäglichen Leichenflederei allerdings nicht mehr. Schade um die heiteren Radfahrer. Jedenfalls wurde das Buffet mit dem Schlussapplaus wieder hervorgerollt. Zur Versöhnung?
www.winterfest.at
Bilder: Winterfest / Erika Mayer