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Befreiung aus der Fremdbestimmung

WIEN / STAATSOPER / OREST

02/04/19 Der Wiener Staatsoper gelingt mit Manfred Trojahns Erstaufführung seines Orest eine Leistungsschau, wie man sie schon lange nicht mehr erlebt hat. Michael Boder trägt die musikalische Verantwortung, Marco Arturo Marelli laviert in seiner Inszenierung kongenial zwischen Schuld, Sühne, Pflicht und Rache.

Von Oliver Schneider

Manfred Trojahns 2011 in Amsterdam uraufgeführter Orest gehört zu den wenigen zeitgenössischen Werken, die nicht einfach in den Archiven verschwinden. Bereits 2014 sorgte die Neue Oper Wien für die österreichische Erstaufführung, jetzt zieht das größte Opernhaus des Landes nach. Hans Neuenfels inszenierte das Werk 2017 mit großem Erfolg in Zürich, indem er Orests Kämpfe im Unterbewusstsein zwischen Wahn und Wirklichkeit changieren ließ.

Der in Wien beliebte Regisseur Marco Arturo Marelli lässt das quasi die Fortsetzung der Straussschen Elektra bildende Musiktheater in einem nach rechts gekrümmten, trostlosen Betontunnel spielen, in dem sich gleich nach Klytämnestras Todesschrei die Türen in die Freiheit öffnen. Doch Orest kann sie nicht durchschreiten. Die sein Gewissen bildendenden Frauenstimmen (vom Tonband) halten ihn zurück. "Orest", flüstern sie, den Muttermörder quälend, der doch nur auf Apolls Geheiss getötet hat. Noch rund 75 Minuten bleibt er das Werkzeug dies unerbittlich befehlenden Gottes Apoll genauso wie eines im Goldkostüm verführenden Dionysos (überzeugend Hausdebütant Daniel Johansson in der Doppelrolle). Und seiner von fanatischem Gerechtigkeitssinn getriebenen Schwester Elektra, die ihn auch dazu antreibt, seine Tante Helena mit der Axt zu erschlagen. Evelyn Herlitzius gibt diese Elektra, für die sie nicht ihre langjährige Erfahrung als Strauss-Elektra mitbringt, mit Haut und Haaren und perfekt kontrollierter, herbem Mezzosopran. Ihre Tante Helena ist auch nach dem Trojanischen Krieg und ihrer Rückkehr nach Griechenland noch eine attraktive Frau. Kostümbildner Falk Bauer hat sie im goldenen Abendkleid und mit Pelzmantel zu einem Abbild von Marilyn Monroe gemacht (Laura Aikin immer noch blitzblank intonierend, aber auch mit den nötigen Schattierungen). Ensemblemitglied Thomas Ebenstein weiß sich als ihr Gatte Menelaos in Szene zu setzen, der seinem Neffen Orest alles andere als eine Stütze ist.

Marelli verhandelt in seiner Inszenierung schlicht, ohne Beiwerk und personenzentriert die inneren Konflikte Orests. Mehr braucht das auf Euripides' Tragödie, von Trojahn selbst verfasste Libretto, das er um Ausschnitte aus Friedrich Nietzsches Dionysos-Dithyramben ergänzt hat, nicht. Die quälenden, inneren Konflikte Orests, das sind allgemeingültige Fragen, die gestern wie heute gelten. Orest schwankt in seinem Zaudern zwischen Eigen- und Fremdbestimmung, zwischen Realität und Traum. Thomas Johannes Mayer lässt die Grenzen im Laufe des Abends immer mehr verschwimmen und gibt stimmlich und darstellerisch einen hoch expressiven Orest. Singend, schreiend mit maximalem Stimmumfang ringt dieser Orest um die Befreiung aus in seinem Innern widerstreitenden Mächten. Der Kampf gegen die Götter und seine dominante Schwester Elektra gelingt ihm schlussendlich. Dabei hilft ihm Hermione, Helenas Tochter (Audrey Luna mit glasklarem Koloratursopran). Sie öffnet ihm die bewusste Tür ans Licht. Doch macht Orest damit wirklich seinen Schritt in die Eigenverantwortung? Neuenfels hat das in Zürich verneint. Und auch Marelli sieht es nicht so positiv wie Trojahn, denn indem Orest Hermione nur ins gleissende Licht folgt, begibt er sich in eine neue, selbst gesuchte Abhängigkeit.

Michael Boder, nicht zum ersten Mal der Mann für die Moderne, ist der souveräne Herr über das musikalische Geschehen. Gemeinsam mit den an allen Pulten souveränen Musikerinnen und Musikern des Staatsopernorchesters spürt er Trojahns Reminiszenzen an Richard Strauss, aber auch an Henze, Berg und Mahler – durch Mark und Bein geht Trojahns Hammerschlag bei der Ermordung Helenas – minutiös auf und gibt ihnen in der dichten, großbesetzten Partitur deutlichen Raum, ohne Trojahns eigene Klangwelt zu vernachlässigen. Eindrücklich ist, wie fabelhaft Boder die Balance zwischen dem Geschehen im Graben und jenem auf der Bühne ausbalanciert, sodass man den Worten der Protagonisten bestens folgen kann. Brachiale klangliche Gewalt erschüttert schließslich das Haus im Zwischenspiel zwischen der vierten und fünften Szene. Es evoziert die Schrecken des Trojanischen Kriegs, die verstärkend von schwarzen Akrobaten illustriert werden. Großer Jubel für alle Mitwirkenden und den heuer 70 Jahre werdenden Komponisten.

Weitere Vorstellungen am 5., 7., 10. und 13. April – www.wiener-staatsoper.at
Bilder: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

 

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