Du hättest etwas tun können
WIEN / MEDEA / SIMON STONE
21/12/18 Im kommenden Festspielsommer wird der australisch-schweizerische Regisseur Simon Stone Luigi Cherubinis Oper Médée inszenieren. Der Stoff beschäftigt ihn seit Jahren, am Donnerstag (20.12.) hatte im Burgtheater seine Überschreibung der Medea des Euripides Premiere.
Von Reinhard Kriechbaum
Was für eine Frau steht da ihrem Noch-Ehemann gegenüber! Unmöglich, sich diesem Charakter zu entziehen. Sie zieht alle Register, gibt Schuld in homöopathischen Dosen zu, um gleich einer Seelen-Krake die Tentakel der Emotion auszufahren. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, ist sie zutiefst davon überzeugt, dass ein Neubeginn möglich sei.
Nach einem Mordversuch an ihrem Mann hat Anna lange Zeit in der Psychiatrie verbracht. Nun die erste Begegnung mit ihm, mit den Kindern. „Nur nichts falsch machen“, mögen die Ärzte und die Sozialarbeiter Lucas geraten haben. Er steht da wie die Allegorie des Biedermanns, hoffnungslos überfordert, ausgeliefert dieser leidenschaftlich fordernden Wiedereinsteigerin in einen längst nicht mehr existenten Familienverband. Lucas lebt unterdessen mit Clara zusammen, "die fünf war, als wir uns lieben lernten", wie Anna ihm später an den Kopf werfen wird.
Caroline Peters ist diese heutige Medea, die Simon Stone einem tatsächlichen Kriminalfall in den USA nachempfunden hat. Selbst mit dem Zucken eines Mundwinkels blitzt ihr schier unbändiges Temperament auf. Stone hat sich von Bob Cousins eine gleißend weiße, völlig leergeräumte Bühne bauen lassen, in der die Handelnden umgehen wie in einer psychotherapeutischen Familienaufstellung. Macht nichts, wenn eine Figur am Rand (oder gar im Zentrum) stehen bleibt in einer Szene, wo sie eigentlich gar nicht mehr hin gehört. Die Bindungen oder die zerrissenen Fäden werden so nur sichtbarer, krasser, bedrohlicher.
Simon Stone ist mit seiner Medea-Überschreibung ganz nah an Euripides, an der „Hexe großen Stils“, wie es Peter von Matt in seinem Essay „Mythos Medea“ im Programmheft formuliert. Stone lässt auch die Pharmaindustrie mitmischen: Kreons Königshof ist eine Firma von Potenzmittelforschern, in der Lucas/Jason Karriere macht. Wie (heutiger) Alltag und der starke Sog des absolut nicht „antik“ sich gerierenden Mythos ineinander greifen, birgt nicht selten das Zeug auch zur Komödie. Kaum in einer Medea so oft gelacht! Aber kein Lachen ohne unmittelbaren Kickpass ins Bodenlose. Stets lauert die existenzielle Verzweiflung.
Wie umgehen mit einem Menschen, der Tatsachen und schon gar nicht Grenzen zu akzeptieren vermag? Lukas macht – natürlich – alles grundfalsch, indem er wider besseres Gewissen da und dort einlenkt. Es kann gar nicht ausbleiben, dass er mit der Ex, von der er noch gar nicht geschieden ist, wieder im Bett landet.
Die Inszenierung kam, in niederländischer Sprache, schon 2014 in Amsterdam heraus, war jüngst auch in London zu sehen. Sie firmiert im Burgtheater folgerichtig als deutschsprachige Erstaufführung.
Alleinstellungsmerkmal in Wien ist gewiss die Besetzung. Caroline Peters gelingt fulminant der Wandel von der Wiederkehrerin neben der Spur zur großen Tragödin und Realitätsverweigerin. An dieser Entwicklung hat aber auch das Umfeld entscheidenden Anteil. Steven Scharf ist Lucas, ein weicher Lavierer, für den man rasch das Wort Waschlappen parat hält. Mit seiner wesentlich jüngeren neuen Gefährtin (Mavie Hörbiger), drei Köpfe kleiner als er, lebt er in einem Ungleichgewicht, nach dem sein Ego sich möglicherweise schon immer gesehnt hat. Aber auch sie ist nicht „schwach“. Christoph Luser spielt ihren Bruder, der Lucas einmal hart an die Kandare nimmt und an die Verpflichtung Clara gegenüber erinnert. Das ist der Knackpunkt, ab dem sich das Fatum unerbittlich gegen Anna wendet.
Die Dialoge sind pointiert-lebensnah, und doch steht die Aufführung für einen Stil, der sich abhebt von der Konvention des Alltäglichen. Die beiden Kinder (in der Premiere Quentin Retzl und Wenzel Witura) sind fast immer auf der Bühne, filmen die fatalen Szenen einer elterlichen Ehe. Das wird groß übertragen, und aus diesen Nahaufnahmen bekommt man so recht die brillante mimische und gestische Feinmotorik des Ensembles mit. Das Premierenpublikum zollte ausgiebigen Jubel.
Und das letale Ende? Auch da: Familienaufstellung – für Medea so etwas wie die ultimative Selbst-Therapie. Mord und Selbstmord (durch das Anzünden des Hauses) ist zu dem Zeitpunkt die einzig denkbare Lösung für sie, der jetzt erst die Ausweglosigkeit ihrer Lage endgültig bewusst geworden ist. Der Ton beruhigt sich. Anna/Medea ist eine starke Argumentiererin geworden, die auch die Mitschuld ihres Gegenübers einklagt. Im entscheidenden Moment also dreht Simon Stone nicht weiter an der Emotionsschraube, sondern lässt das Ungeheuerliche, das Ausweglose einer Situation ganz ruhig für sich sprechen. Dadurch ein doppelt starker Moment.
Das Ende wird uns von der Fürsorgerin Anne-Marie-Lou (Irina Sulaver) kolportagehaft geschildert: Schwarzer Brandregen fing irgendwann an von oben in den weißen Bühnenraum zu rieseln, als ob der Regisseur uns anzeigen wollte, dass hier ein Entschluss längere Zeit schon feststeht. Anna wird die schlafenden Kinder dann mit dieser Asche bedecken und ein letztes imaginäres Telefonat mit Lucas führen: „Du wirst nach Hause kommen und sehen, dass dein Leben unwiederbringlich anders geworden ist“. Und: „Du hättest etwas tun können ...“