Süßes Mädel in den drittbesten Jahren
REST DER WELT / LINZ / ANATOL
06/12/17 „Die Weiber lügen nicht … die Wahrheiten wechseln nur für sie“, sagt Anatol mit Kennermiene. Er, der selbst trickst und betrügt wie ein Teufel, hält das andere Geschlecht für nicht mehr als für Fake News fähig. Ein Widerling sondergleichen.
Von Reinhard Kriechbaum
Wienerisch? Da täte Anatol seine Argumentations-Finten mit mehr Charme ausrinnen lassen und die Frauen, die er in dem Einakter-Puzzle sitzen lässt, eine um die andere, täten sich mit mehr oder weniger Fassung durch ihre Rollen raunzen. Aber Wienerisch kann man in #metoo-Zeiten den ganzen Schnitzler nicht mehr spielen, und „Anatol“ sowieso nicht. Susanne Lietzow hat sich, davon kann man ausgehen, ihr Konzept für den alten Schwerenöter, vor allem auch jenes für die Geschlechtsgenossinnen, denen er so übel mitspielt, sowieso schon lange vor dem kollektiven Social-Media-Befreiungsschlag dieser Tage und Wochen ausgedacht.
So hat die Regisseurin also aus allen eine gemacht, aus Berta, Cora, Gabriele, Bianca, Emilie, Annie, Ilona und Fritzi. Diese eine, die alle „Auslaufmodelle“ in Anatols Beziehungsmenagerie spielt, ist in den Kammerspielen des Linzer Landestheaters Martina Spitzer. Mit beeindruckender Präsenz und Stärke stattet sie eine jede der vom Lebemann Anatol betrogenen und kalt abservierten Frauen aus. Sie waren alle einmal die „Süßen Mädel“, um die Schnitzlers Werk so oft kreist. Von ihrer einstigen Ausstrahlung ist immer noch deutlich mehr als ein Hauch da, aber in Martina Spitzers und Susanne Lietzows herber, bisweilen deftiger Lesart sind es süße Mädel schon in den drittbesten Jahren. Sprich: Sie haben ihre Lebenslektionen gelernt. Sie wissen messerscharf zu kontern, auch wenn sie (meist uneingestanden) mordsmäßig leiden.
Heroinen werden sie deshalb noch lange nicht – es ist immer noch Schnitzler, es ist das verlogene Fin de siècle. Und es ist die damals in der Luft liegende Seelenschau eines Sigmund Freud, die „Anatol“ stärker durchweht als jedes andere Stück von Schnitzler. Der Lokalkolorit ist in „Anatol“ weniger ausgeprägt.
Schnitzler als studiertem Arzt war die Psycho-Klempnerei sowieso nicht fremd. Das also schälte Susanne Lietzow konzis heraus. Schon Jugendliebe Berta treibt zu Beginn, in „Anatols Größenwahn“, den scheinbaren Besserwisser mit sarkastischer Ironie vor sich her. Am ende wird sie sich als Vorstadtmädel Fritzi eine blonde Perücke und Maske mit greller Schminke überziehen und den – allein – auf den Ball, zu Seinesgleichen aufbrechenden Anatol in ein ihn entlarvendes Rollenspiel drängen.
Dazwischen ist Martina Spitzer mal die Ballettänzerin Annie, die Anatol mit (angetrunkenem) Mut der Verzweiflung den Ausstieg aus der Liaison verkündet, mal die dominante Ilona. Die lässt sich auf Anatol ausgerechnet in der Nacht des Junggesellenabschieds ein, nichts ahnend von seiner Hochzeit am kommenden Tag. Ein Höhepunkt des Abends ist die Charakterstudie der „mondänen Arztensgattin“ Gabriele. Indem sie in „Weihnachtseinkäufe“ mit Anatol ein Geschenk fürs derzeit aktuelle süße Mädel aussucht, offenbaren sich Stärke wie seelische Deformiertheit.
Bei einer solchen Gegenspielerin hat Andreas Patton in der Titelrolle kein leichtes, aber ein lohnendes Spiel. Dieser Anatol flüchtet sich oft in ein präpotentes Gehabe und kann doch nicht verbergen, dass es Bindungsangst ist, die ihn immer wieder in die Vorstadt treibt. Dort sind jene Opfer zu finden, die von einem wie ihm, dem noblen Herren, wenig zu hoffen haben, die einem wie ihm am wenigsten gefährlich werden können. Glaubt er jedenfalls.
Der dritte im Bunde ist Freund Max , viel mehr als ein Stichwortbringer. Er ist als kritischer Beobachter eigentlich Verbündeter der Frauen, als Anatols freund aber auch diesem verpflichtet. Ein wendiger Typ jedenfalls, bei Christian Taubenheim in sehr guten Händen.
Die Drehbühne erweckt Assoziationen zum (viel später geschriebenen) „Reigen“: vier Räume, transparent die Wände. Da bleibt nichts verborgen, die Frauen sind immer schon da, wenn die beiden Männer noch „unter sich“ scheinen. Die Einakter werden durch Musik voneinander getrennt, Gilbert Handler singt Paraphrasen auf Opernarien, mal in tiefer Stimme, mal in Countertenor-Lage. Unter anderem Bellinis „Casta Diva“: Keusche Göttin. An Ironie fehlt es nicht.