Der Christenkaiser mit dem Irokesenhaarschnitt
MÜNCHEN / KRENEK / KARL V.
12/02/19 Carlus Padrissa und La Fura dels Baus gelingt gemeinsam mit Dirigent Erik Nielsen, dem Bayerischen Staatsorchester und allen Protagonisten eine bildmächtige, bruchlose Umsetzung des ersten, vollständig nach der Zwölftonlehre komponierten Bühnenwerks überhaupt. Einhelliger Jubel.
Von Oliver Schneider
Der Welterfolg Johnny spielt auf, auch das Experimentieren mit ganz unterschiedlichen Kompositionsstilen lag schon hinter Ernst Krenek, als er Anfang der 1930er Jahre des letzten Jahrhunderts vom damaligen Wiener Staatsoperndirektor Clemens Krauss den Auftrag erhielt, ein Musiktheaterwerk mit historischem Bezug zu komponieren. Krenek wollte das Lebensziel von Karl V, ein christliches Weltreich ohne Grenzen zu schaffen, aus dem Blickwinkel der Gegenwart deuten. Der politische Wind drehte jedoch auch in Österreich durch den Ständestaat rasch nach der Auftragserteilung, sodass die Uraufführung erst 1938 in Prag stattfinden konnte, kurz vor dem deutschen Einmarsch.
In seinen letzten Lebenstagen rechtfertigt der nach der Abdankung zurückgezogen im Kloster San Geronimo de Yuste lebende Karl nach der Aufforderung Gottes gegenüber dem jungen Mönch Juan de Regla seine politischen Taten vor der Geschichte. Das Christentum sollte die „Einheit in der Vielfalt“ bilden. Karls Ziel scheiterte bekanntermassen, genau wie Kreneks utopischer Wunsch, dass Österreich in Europa eine Art kulturelle Führerschaft gegen den Nationalsozialismus und Rechtsradikalismus übernehmen sollte.
Epische Rechenschaftsberichte, lange gesprochene Passagen, wenig Geschehen – in einem lesenswerten Libretto – und Rückblenden machen die Arbeit für das Regieteam nicht einfach. Carlus Padrissa und seine Mitstreiter von La Fura dels Baus versetzen das Schwanken zwischen Realität und Vergangenheit auf eine zeitlose, kaleidoskopartige Bühne aus Spiegelwänden, die immer wieder zu neuen Formen verschoben werden, und einer riesigen Wasserfläche am Boden, die als Symbol für die sich spiegelnden Erinnerungen Karls und die Regeln der Zwölftonmusik mit ihren Umkehrungen, Krebsen und Krebsumkehrungen steht.
In den Spiegeln und im Wasser reflektieren sich Videoinstallationen, die auf die Rückwand projiziert werden. Zunächst ist es Tizians Jüngstes Gericht mit der kaiserlichen Familie am rechten Bildrand, aus dem Gottes Aufforderung zum Ablegen der Rechenschaft über das eigene Leben drohend mahnt (Mechthild Grossmann). Nackte Körper scheinen aus dem Gemälde herauszuklettern, die sich mit vielen weiteren Statisten zu einem vom Schnürboden herunterkommenden Mobilé vereinen. Sie stehen in immer neuen Kompositionen stellvertretend für die gesichtslose Menschheit in Karls Weltreich, die durch seine Politik und sein privates Tun beeinflusst wird. Später folgen astrologische Bilder – Karls Kopf ist außerdem mit einem Irokesen-Haarschnitt ähnlichen Teil eines astrologischen Tierkreises oder eines Sonnenkreises bedeckt – und Wasser-Videoinstallationen mit schwebenden Menschenkörpern (Lita Cabellut, Marc Molinos).
Padrissa und seinem Team geht es bis zur Pause weniger um die individuelle Zeichnung der Personen als um das Vermitteln von bildhaften Gesamteindrücken. Darunter leidet der blass bleibende Janus Torp als nur sprechender Beichtvater Juan de Regla. Bo Skovhus als Karl kann erst nach der Pause wirklich zeigen, wie der frühere Kaiser am Ende seines Lebens um Rechtfertigungen ringt, wie er gegen seinen (menschlichen) Grenzen kämpft. Das berührt und lässt den Zuschauer mitleiden.
Distanziert bleibt Luthers Auftritt erster Auftritt (markant Michael Kraus) aus dem Graben in stilisiertem, traumhaftem Renaissancekostüm. Das Bedrohliche der den vermeintlichen Ketzer niederschreienden Katholiken (ausgezeichnet vorbereitet von Stellario Fagone der Chor des Hauses) oder die über die Parkettsitze kletternden Kreaturen bleiben wiederum als Bilder im Kopf. Zur Karikatur auf einer halbzerstörten Säule sitzend wird der von Karl besiegte Franzosenkönig Franz I (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke mit durchdringendem Charaktertenor), den Karls Schwester Eleonore ehelicht. Gun-Brit Barkmin (in der Höhe etwas scharf) ist die einzige weibliche Protagonistin, die im Traum und dann in der Wirklichkeit im zweiten Teil Profil entfalten kann. Zu menschlichen Ausschweifungen in einem Videostill darf sie dann über ihr zügelloses Leben am französischen Hof berichten. Auch über die vielen weiteren Protagonisten ließe sich vor allem Positives schreiben.
Erik Nielsen und das Bayerische Staatsorchester tauchen mit ungeschminkter Klarheit, schneidender Härte, aber auch lautmalerischer Sensibilität – unter anderem im Zwischenspiel – durch die auf zwei Zwölftonreihen beruhende Partitur. Ein großer Erfolg für die Bayerische Staatsoper und Ernst Krenek.