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„Somewhere“ ist das Paradies

PFINGSTFESTSPIELE / WEST SIDE STORY

15/05/16 Manchmal kann man einfach nur vor Neid erblassen. So viel Geld haben die Festspiele, dass sie selbst Cecilia Bartoli doubeln können. Die junge Dame im Profil, das Kinn, die Nase: Wenn nicht sowieso keine andere eine Bartoli sein könnte, dann wär's unzweifelhaft diese eine: Michelle Veintimilla.

Von Reinhard Kriechbaum

Von zwei Marias müssen wir also erzählen. Von der Einen, die immer noch Brautkleider verkauft im Modesalon, wo sie damals auf der Feuerleiter ihr erstes „Tonight“ mit Tony gesungen hat. Wir kennen die Geschichte. Jetzt, am Weg runter zur Metrostation, kommen ihr ein paar junge Typen unter. Gleich sind sie wieder da, die unbewältigten Schatten der Vergangenheit, und schon ist sie drin in der „West Side Story“ von damals. Und da ist auch schon die zweite, die junge Maria, die all das jetzt sagt, durchlebt und erleidet, von dem die gereifte Maria auch nach Jahrzehnten traumatisiert ist.

Manchmal überkommt's die ältere Maria. Da spricht sie ein paar Sätze mit, und wenn die Mädchen ihr „America“ anstimmen, dann fährt der Rhythmus auch ihr in die Beine. Wir kennen das Temperament der Bartoli. Singen tut natürlich nur sie, das junge Alter Ego ist nur zum Sprechen und Schauspielen da. „Tonight“, „One hand, One heart“, „I feel pretty“ und „Somewhere“ sowieso, das ist Sache allein der Bartoli. Sie nimmt sich eh zusammen mit dem Vibrato, aber bei den vor Emotion triefenden Gassenhauern überkommt sie's einfach, und via Microports wird die sängerische Übergröße unbarmherzig hinaus posaunt. Wir haben da eine Maria von einem gestalterischem Sendungsbewusstsein, dem nicht der virtuoseste Tontechniker an den Schiebereglern Herr werden könnte.

Das ist auf Dauer schon ein Riesenproblem einer Aufführung, die sich sonst durch Perfektion und Stilbewusstsein auszeichnet. Wir sind in den fünfziger Jahren (Bernsteins Werk erlebte 1957 seine Uraufführung). Alles ist ganz malerisch Retro, die Kostüme (Ann Hould-Ward) wie aus dem Bilderbuch der US-Nachkriegsgeschichte, ebenso die Frisuren. Ja, selbst die Sprache ist so gecoacht, dass man nur staunen kann ob der linguistischen Ausgefeiltheit bis zur letzten Bühnenfigur. Da legen die Festspiele aufs weit gehobene Broadway-Niveau noch ein Schäuflein Perfektheit und Professionalität drauf. Man kann gar nicht anfangen, einzelne Namen zu nennen, weil jede Rolle mit solcher Liebe und Akkuratesse besetzt ist, das man aus dem Staunen und Bewundern gar nicht heraus kommt. Der Salzburger Bachchor steht in den Arkaden. All die rivalisierenden Jets und Sharks und ihre Mädchenschar sind gemischt aus Schauspielern und Tänzern und mit sicherer Hand geführt. Philip Wm. McKinley (Regie) und Liam Steel (Choreographie) haben das Werk als (Museums-)Stück in durchgehenden Hochglanz versetzt.

Auch wenn man weiß, dass man die „West Side Story“ in einer Zeit rabiat um sich greifender Xenophobie völlig anders erzählen müsste, hat das schon irgendwie auch seine Schlüssigkeit: Die Fünfzigerin Maria erinnert sich, und auch ein Trauma kann man, ohne den Schrecken bewältigt zu haben, irgendwie verklären...

Norman Reinhardt ist Tony. An die die zart-junge Maria der Michelle Veintimilla wirkt er fast verschenkt, dieser Schwiegermutter-Traum der Nachkriegsgeneration. Was die Bartoli zu viel hat, bringt dieser Tenor in der absolut richtigen Dosis: eine Stimme mit Charisma, unendlich diszipliniert im gestaltenden Einsatz. Ist die Bartoli an dem Abend vermutlich der Schrecken für die Leute an der Elektronik, dann können sie sich vermutlich entspannt zurücklehnen, wenn Norman Reinhardt zu singen anhebt. Er steht – ganz legitim – fürs Opernhafte der „West Side Story“, Karen Olivo hingegen für den Zugang als Singschauspielerin. Auch sie, so wie George Akram (Bernardo) und Dan Burton (Riff), Teil eines auf den Zehntelmillimeter genau gelegten Musical-Puzzles. Man kann sich das alles nicht besser wünschen.

Das Simón Bolívar Symphony Orchestra sitzt sehr tief, der Orchesterraum ist weit überbaut. Vielleicht deshalb wirkt die Musik, deren rhythmischen Verve Gustavo Dudamel so recht entfaltet, gar nicht (vor)laut. Manch gediegen abgemischte Farbe dringt da im Leisen herauf, und man fragt sich, ob es nicht eine gute Lösung gewesen wäre, auf Verstärkung überhaupt zu verzichten. Vielleicht hätte sich der Mut zum akustischen Risiko gelohnt.

Zum Retro-Aspekt der Aufführung gehört es, dass man die Dialoge so gut wie in Originalform belassen hat. Kurz sind sie wirklich nicht, zwanzig Minuten Aufführungsdauer wären einzubringen ohne Schaden an der Sache.

Drei Spielebenen bietet der metallene Riesenbau vom Bühnenbildner George Tsypin. Die transparenten Graffiti-Wände davor kann man zu Guckkastenbühnen öffnen oder mit raffinierter Beleuchtung fast durchsichtig machen. Wenn das Gestell auseinandergefahren wird, ist immer noch immens viel Platz für die Gruppenkämpfe der Jets gegen die Sharks.

An Raum mangelt's fürwahr nicht nicht in der Felsenreitschule, weder in die Breite noch nach oben. Warum der Laufsteg ganz oben, über die gesamte Bühnenbreite? Die von der Erinnerung endgültig übermannte Maria hat sich vor den Metrozug geworfen, viele Stufen sind's in den Himmel, wo ihr – eben über den Steg – Tony entgegen kommt. Dort also ist „Somewhere“...

Zweite Aufführung heute Sonntag (15.5.) 15 Uhr. Wiederaufnahme im Sommer am 20. August. Alle Vorstellungen sind schon ausverkauft – www.salzburgfestival.at
Bilder: Salzburger Festspiele / Silvia Lelli

 

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