Vergessen sind die Fluchschleudern
PFINGSTFESTSPIELE / GERGIEV / REPIN / PETRENKO
21/05/13 … unvergessen die Verfluchten: Die politische Seite des Generalthemas „Opfer“ wurde im Konzert des Orchesters des Mariinski-Theaters unter der Leitung von Valeri Gergiev anhand zweier Russischer musikalischer Mahnmale betrachtet.
Von Heidemarie Klabacher
In seinen Adern fließe kein jüdisches Blut, aber er trage den abscheulichen Hass aller Antisemiten, als wäre er ein Jude - „und das macht mich zu einem wahren Russen“. Das schreibt der russische Dichter Jewgeni Jewutschenko in seinem Gedicht „Babi Jar“, in dem er an die Ermordung tausender Juden in einer Schlucht in der Nähe von Kiev erinnert. Diesen Text vertonte Dimitri Schostakowitsch als ersten Satz seiner Symphonie Nr. 13 b-Moll op. 113. Insgesamt fünf Texte Jewutschenkos bilden die Sätze dieser Vokalsymphonie für Bass, Männerchor und Orchester. Babi Jar. Humor. Im Geschäft. Ängste und Eine Karriere heißen die fünf Sätze der „Dreizehnten“ Schostakowitsch, die 1962 in Moskau uraufgeführt wurde.
Ein musikalisches Ur-Erlebnis war die Aufführung im Rahmen der Pfingstfestspiele am Montag (21.5.) in der Felsenreitschule mit Chor und Orchester des Mariinski-Theaters unter der Leitung von Valerie Gergiev und dem Bass-Solisten Mikhail Petrenko.
Valerie Gergiev hat die vielfältigen Stilelemente von politisch korrekt stampfender Maschinenmusik bis hin zu den Klängen der Chöre der Ostkirche mit großer Geste nachgezeichnet – angetrieben und ständiger Spannung gehalten von einer quasi inneren Unruhe, die stärker wirkt, als äußerer Aufruhr. Tatsächlich gab es nur ganz wenige „richtige“ Fortissimo-Passagen. Die singuläre Qualität der Aufführung kam aus vorwärts drängender Verve, innerer Spannung und, bei allem Drive, akribisch ausgeloteten und aufgefächerten Klangfarben.
Der Bass-Solist Mikhail Petrenko sang, sekundiert von den Einwürfen des Chores, die gewaltigen „Lieder“, die vom Grauen erzählen, von der Gewalt, von der Angst und vom Opportunismus – aber auch vom Humor, der nicht unterzukriegen ist, weder durch Gewalt noch durch Bestechung, und von den Frauen, die im Geschäft geduldig anstehen, „manche mit Schals, manche mit Tüchern, wie auf dem Weg zu einer Heldentat oder zur Arbeit“.
Petrenko hat für jede Emotion eine einprägsame Klangfarbe, ein bewegendes weiches Piano für die Heldinnen des Alltags mit ihren Einkaufstaschen, ein packendes stählernes Fortissimo für die Umtriebe des opportunistischen Karreristen, eine gespannte innere Unruhe für den von der Angst getriebenen Dichters oder Denkers, dessen größte Angst ist, „nicht mit aller Kraft zu schreiben“. Fortissimo und Pianissimo getaltet mit der selben Leichtikgeit, mit dem selben eleganten klangvollen Timbre, in allen Lagen auf einen einzigen souveränen Stimmsitz. Eine Stimme quasi wie ein Denkmal - nur voller Leben und Glut. Eine überwältigende sängerische Leistung.
Es sind deftige politische Gedichte, als Lyrik nicht ganz so subtil, wie der verfeinerte literarische Geschmack des Westens sie vorschreibt. Aber es sind literarisch qualitätvolle bewegende Momentaufnahmen einer konkreten zeitgeschichtlichen Situation – und sie haben ihre Gültigkeit nicht verloren. Was Jewgeni Jewutschenko über die „Karrieristen“ schreibt, sollte in jeder Konzernzentrale und vielleicht sogar in jeder Kulturinstitution hängen… Insofern sind die Gedichte zeitlos – und Schostakowitsch hat sie mit seiner grandiosen Vertonung ohnehin unsterblich gemacht.
Im ersten Teil der Pfingstmontags-Matinee in der Felsenreitschule erklang das 1981 in Wien von Gidon Kremer uraufgeführte Konzert für Violine und Orchester von Sofia Gubaidulina in der Fassung von 1986 mit dem Titel „Offertorium“. Der Violinsolist Vadim Repin spielte – facettenreich assistiert vom Orchester des Mariinski-Theaters - das mit musikologischer und politischer Bedeutung bis zur Langatmigkeit aufgeladene Werk mit virtuoser Technik und größtem Klangfarbenreichtum.