Ungewöhnlich gewöhnungsbedürftig
PFINGSTFESTSPIELE / NORMA
19/05/13 Am Ende wird der Horst der Freischärler, die Schule, von ihnen selbst abgefackelt. Die Matratzen und Schulmöbel, all das alte Zeugs, wird um Norma und Pollione gestaffelt, die auf Sessel gebunden da sitzen. - Bellinis "Norma", mit Cecilia Bartoli in der Titelrolle und mit Giovanni Antonini am Pult.
Von Reinhard Kriechbaum
Zwei Mal geht während der Ouvertüre der Vorhang auf, in zwei Spielszenen wird uns vermittelt, dass es in den nächsten drei Stunden nicht um Gallier und Römer, sondern und einen Politkampf in unserem Jahrhundert geht. Franco-Spanien vielleicht, oder wo auch immer. Eine Diktatur jedenfalls, die auf Widerstand stößt. Die Revolutionäre treffen sich im Schulhaus: konspiratives Zentrum, Lazarett. In einer Szene werden sogar unter dem Fußboden Leichen verscharrt.
Der Zeitwechsel ist eigentlich egal. Freilich ist von Druiden, von religiösen Riten die Rede - das schert die Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier wenig, und es ist auch völlig wurscht. Sie erzählen ihre Bildgeschichte von einer Dreiecksliebe zwischen den politischen Lagern schlüssig, genau und glaubwürdig in der Personenführung. Ob Normas heimliche Mutterschaft eher einleuchtet, wenn sie, wie hier, Volksschullehrerin (oder -direktorin) ist, als wenn sie irgendwo in einem Tempel gallischer Priesterinnen lebte? Um die Geschichte geht es wohl nicht, die ist so und so hanebüchen.
Es geht aber auch keineswegs um das schöne Singen allein, das zeigt die - durchaus gewöhnungsbedürftige - Aufführung der Pfingstfestspiele nachdrücklich. Was auch immer man an dieser Produktion an Fremdartigem ausmacht, an einem bleibt kein Zweifel: Vincenzo Bellinis Musik birgt ein schlüssiges und intensiv nacherlebbares Seelendrama in sich. Sie spielt die Emotionen durch und bietet beeindruckende Möglichkeiten zur Charakterzeichnung.
Und das alles unmittelbar aus der Partitur heraus, die musikologisch durchforstet, dramaturgisch da und dort leicht, aber bestimmend verändert worden ist. Mag sein, dass man mit diesem Norma-Notentext, der bei den Pfingstfestspielen das erste Mal Grundlage einer Aufführung ist, Bellinis Intentionen sehr nahe gerückt ist.
Vieles ist sehr anders, als man es kennt. Da ist also einmal jede äußere Glamour-Erwartung zu streichen. Norma ist in dieser Fassung keine Koloraturen-Leuchtrakete. Der Part ist tiefer transponiert, vom Stimmton des Orchesters nochmal abgedunkelt. Eine Seelen-Tragödin, die Kostümbildner Agostino Cavalca also in ein altmodisches Schulfräulein-Kostüm der vierziger Jahre gesteckt hat. Das Fräulein lebt aber, leidet, und wie! Cecilia Bartoli ist Diva genug, das zu übermitteln, vor allem im zweiten Akt. Das flackernde Vibrato, sei's drum. Man erträgt es. Viele lieben es sogar, wie der minutenlange Beifall nach dem "Casta Diva" zeigte (über die Qualität der Soloflöte reden wir da lieber nicht).
Der Wahrhaftigkeitsanspruch ist hoch und wird eingelöst. Wie da einer Frau das selbstauferlegte Beschützen ihres dem anderen politischen Lager angehörenden Geliebten (mit dem sie geheim zwei Kinder hat) über den Kopf wächst; wie sie innerlich beinah zerbricht, weil sie ansehen muss, wie der Schurke sich eine Jüngere angelt; wie sie um ihn kämpft und sich schließlich sogar für ihn opfert: Das ist schon die Rolle der Bartoli. Aber eben: Bloß nicht an eine Callas, Gruberova oder wen auch immer denken.
Mag sein, dass der Pollione von John Osborn zu geradlinig, stimmlich nicht wirklich flexibel genug ist. Tolle Höhen, eine kerngesunde Mittellage (mit den Höhen nicht wirklich verbunden) - man denkt eigenartiger Weise bei Osborn mehr über die Stimme und die Technik nach als über die Gestaltung.
Und als dritte Kraft: Rebeca Olvera, diese silberglänzende, lupenreine Adalgisa, ein liebenswertes Sopran-Geschöpf. Ein arger Schelm, der denkt: Für diesen Sopran-Engel ließe man die Bartoli alleweil stehen.
Diese drei Figuren, diese Charaktere werden von Giovanni Antonini am Pult des Zürcher Barock-Opernorchesters "La Scintilla" vorgezeichnet, ihre Gefühlsregungen werden konturenstark ausgemalt. Und doch fehlt etwas: in den Ensembles der entscheidende kapellmeisterliche Drill, der aus den Individualisten ein Ensemble formt und die Sache damit wirklich dramatisch zuspitzt.
Im Haus für Mozart, viel zu groß für derlei musikalisches Kammerspiel, verliert sich manches: Von der 23. Reihe aus ist zum Beispiel der Klang der Violinen perdu. Die Holzbläser haben nicht nur in der Ouvertüre seltsame Kapriolen geschlagen. Das ist deutlich unter dem Standard, den man auf Originalinstrumenten heutzutage voraussetzt.
Die Meriten von Giovanni Antonini liegen im Lyrischen. Er verlangsamt manche Tempi geradezu radikal und erlaubt dann nochmal Ritartandi, ja fast Stillstand. Die Atembögen werden gestreckt, gedehnt, ja: zelebriert. Wenn man schon von Normas Tempeltätigkeiten auf der Bühne nichts sieht: Im Orchestergraben sind Gralshüter der innigen Linie am Werk.
Das bringt, auf der Haben-Seite, viel Platz für Verzierungen, mit denen man unmittelbar der jeweiligen psychischen Verfasstheit der Figuren zuarbeitet. Es widerspricht aber eben allem herkömmlichen Belcanto-Glanz. Zwischen eindringlich-gefühlsintensiv und schlurfend-undramatisch ist ein schmaler Grat, auf dem Antonini das Orchester andauernd balancieren und immer wieder auch abstürzen lässt. Eine Performance ohne Fangnetze.
Markig dürfen die Blechbläser lospoltern. Der Rumor hat System. Giovanni Antonini setzt sie ein mehr um Gefahr anzudeuten, als Stimmung zu verdichten. Ein Musik-Kammerspiel also mit vielen markigen Akzenten, mit hoher Emotion im Leisen, das vor zu großem Auditorium nicht genug durchdringt. Man wünscht sich gelegentlich einen akustischen Zoom.
Hört, hört, am Ende: Grenzenloser Jubel natürlich für die Bartoli und das Sängerensemble (noch nicht erwähnt: Michele Pertusi als Oroveso, Liliana Nikiteanu als Clotile und Reinaldo Macias als Flavio). Nur wenige Buhrufe für den Dirigenten und kaum Widerspruch für die Szeniker. So ungewöhnlich gewöhnungsbedürftig diese "Norma" daherkommt, das Pfingstfestspiel-Publikum ward im Handstreich genommen.