Der Schocker nach dem Spitzentanz
PFINGSTFESTSPIELE / GERGIEV / SACRE DU PRINTEMPS
19/05/13 Das Mariinski-Ballett bereicherte das Programm der Pfingstfestspiele um drei Kernwerke der Ballettgeschichte: Strawinskys „Le Sacre du printemps“, „Les Noces“ und „Der Feuervogel“.
Von Oliver Schneider
Man erinnert sich an einzelne Ballettgastspiele aus Wien, Hamburg, letzten Sommer Zürich und ein wenig Tanztheater. Aber der Tanz gehört seit jeher nicht gerade zu den Programmstützen der verschiedenen Salzburger Festspiele. Beim Thema „Opfer“ der heurigen Pfingstfestspiele ist Strawinskys „Sacre“ aber geradezu ein Muss: Ein junges Mädchen muss sich in altrussischer Tradition, umringt von seinem Stamm, bis in die Ekstase tanzen, bis es umfällt und so zum Frühlingsopfer wird.
Zum Glück wurde dieser Meilenstein der Tanzgeschichte, dessen Uraufführung 1913 in Paris einen Riesenskandal auslöste, am Samstagabend (18.5.) nicht nur konzertant, sondern vom Ballett des Petersburger Mariinski-Theaters dargeboten. Getanzt wird eine Rekonstruktion der Choreografie der Uraufführung von Vaslav Nijinsky in ebenso rekonstruierten farbenprächtigen, archaisch anmutenden Bühnenbildern und Kostümen. Für den heutigen Besucher bieten das Gestampfe des heidnischen Volkes, die hereintapsenden Greise, das wilde Umherspringen des am Ende sterbenden Mädchens nichts Aussergewöhnliches mehr. Aber die Wirkung, die diese Choreographie auf die nur an Spitzentanz, Pas de Deuxs und Charaktertänze gewöhnte Zuschauer vor hundert Jahren ausgelöst hat, kann er sich noch immer vorstellen.
Noch dazu kombiniert mit Strawinskys Musik, deren harte Rhythmik und Aufbrechen der Tonalität verbunden mit dem gewaltigen Orchesterapparat schon für sich allein revolutionär erscheinen musste. Das Mariinski-Theater ist wie auf seinen Tourneen üblich auch mit dem eigenen Orchester angereist. Am Pult stand selbstverständlich Valery Gergiev selbst. Und wer, wenn nicht er, könnte diese Musik auch heute noch zu einem verstörenden, packenden Klangereignis machen?
Quasi zum Aufwärmen tanzten die Gäste aus Petersburg vorher die von Bronislava Nijinska choreografierten vier Szenen mit Gesang und Musik „Les Noces“, die zehn Jahre nach der Sacre-Uraufführung ebenfalls von Serge Diaghilevs Ballets Russes in Paris aus der Taufe gehoben wurden. Auch hierzu lieferte Igor Strawinsky die Musik. Doch im Vergleich zum „Sacre“ haftet dem knapp halbstündigen Werk im Bewegungskanon viel Repetitives an, vor allem in den ersten drei Bildern, wenn die Braut und der Bräutigam jeweils separat von ihren Vertrauten für die bevorstehende Hochzeit vorbereitet werden. Auch Strawinskys Musik für vier Klaviere und großen Schlagzeugapparat verlangt dem Zuhörer mehr ab als sein „Sacre“.
Eines der klassischen Handlungsballette der Moderne stand als versöhnlicher Abschluss des Ausflugs in die Ballettgeschichte auf dem Programm. Das Mariinski-Ballett zeigte in der rekonstruierten märchenhaften Choreographie von Michel Fokines „Der Feuervogel“, dass es zu Recht immer noch als eines der wichtigsten Ballettensembles gilt. Alexandra Iosifidi ist ein Feuervogel mit präziser Spitzentechnik, Alexander Romanchikov ein Zarewitsch, der mit kraftvollen Sprüngen und Körperspannung überzeugt, Ekaterina Mikhailovtseva eine sylphidenhafte Zarewna. Was die drei – und selbstverständlich auch Soslan Kulaev in der Charakterrolle als böser Kaschtschej – zu herausragenden Tänzern macht, ist ihre aussergewöhnliche Körpersprache.
Wie zu erwarten, fand der letzte, zugänglichste Teil des Abends beim Publikum im Großen Festspielhaus den größten Zuspruch, bei dem man auch beim Ensemble das größte Engagement spürte.
So gut sich der balletthistorisch interessante, auf hohem Niveau getanzte Abend über das Opferthema des „Sacre“ in das Programm der Pfingstfestspiele einfügte, lässt sich nicht darüber hinwegblicken, dass es sich schlussendlich nur um eine Repertoire-Aufführung einer führenden, regelmässig tourenden Ballettcompagnie handelte. Die Festspiele sollten diesen Abend zum Anlass nehmen, das Thema Tanz verstärkt mit eigenen oder zumindest neuen Produktionen, deren Blick nach vorne gerichtet ist, im Sommer und zu Pfingsten zu integrieren.