Ritter von der weiblichen Gestalt
PFINGSTFESTSPIELE / ARIODANTE
04/06/17 Ritter kriegt Königstochter und Königreich. Tatsächlich geht es im „Ariodante“ um Identität und sich auflösende Geschlechtergrenzen. Gespielt wird auf einer Bühne und in Kostümen, die barocker sind als jeder Barock - also beängstigend modern. Vor allem aber geht es um eine einzige große bravouröse Verneigung vor Georg Friedrich Händels wundersamer Musik.
Von Heidemarie Klabacher
Wenn die Hochzeitsglocken schon in der ersten Szene läuten, ist Skepsis angesagt. Ariodante, ein fahrender Ritter ohne Furcht und Tadel, aber auch ohne gesellschaftlichen Schliff und fast so tolpatschig wie Parzival, ist am Schottischen Hof allen willkommen. Nur nicht dem Herzog Polinesso: Dieser will mittels Königstocher Ginevra selber an die Krone. Er zettelt eine perfide Verleumdungs-Intrige an und fängt sich, nach gut vier Stunden Oper, die viel zu schnell vergehen, tödlich im eigenen Netz.
Das Libretto von Georg Friedrich Händels Oper „Ariodante“ ist, über viele Stationen und Umwege, entlehnt aus DEM Epos der Renaissance, dem „Orlando Furioso“: geschrieben und immer wieder erweitert vom Dichter und Gelehrten Ariost, der selber den Stoff aus einer alten Vorlage übernommen hat. Nicht nur Shakespeare bediente sich bei Ariost für „Viel Lärm um Nichts“. Händel, der selber am Libretto beteiligt gewesen sein dürfte, hat aufklärerisches Gedankengut hinein interpretiert. Er hat etwa das „Gottesurteil“ über Schuld und Unschuld einer des Ehebruchs angeklagten Frau lächerlich gemacht. Die „Romantik“ – dunkelschwarz und mondenschimmernd – steht auch schon vor der Tür. Und ganz „zeitnah“ zu unserer heutigen Gegenwart hat die grandiose Virginia Woolf mit ihrem „Orlando“ aus dem Stoff einen frechen und poetischen Roman über die Auflösung der Geschlechtergrenzen gemacht. Material in Fülle also für Gelehrte von der Mittelalterfraktion bis zur Amerikanistik.
Das Pfingstwunder 2017: Regisseur Christof Loy weiß das alles und er weiß das alles zu vergessen. Seine Lesart, die am Freitag (2.6.) zur Eröffnung der Pfingstfestspiele ihre bejubelte Premiere feierte, ist bis in feinste Details der Personenführung der Musik geschuldet. Und diese Lesart ist bei aller intellektuellen Feinsinnig- und Hintergründigkeit letztlich ganz handfest: Der nach dem Betrug entwurzelte und aus allen Sicherheiten gerissene Ritter Ariodante klammert sich an den einzigen Rettungsanker, der ihm geblieben ist: an das Kleid der Geliebten, das er schließlich an- und nicht wieder ablegen wird.
Cecilia Bartoli gelingt – zunächst einmal rein darstellerisch betrachtet – das gar nicht kleine Kunststück, überzeugend in die Hosenrolle des Titelhelden Ariodante zu schlüpfen. Die gesellschaftliche Unsicherheit des gefeierten Bräutigams und künftigen Königs, seine liebenswürdige Anpassungswilligkeit beim Menuett, die virtuos gespielte Trunkenheit im Angesicht scheinbaren Triumphs: Diese Beispiele staunenswerter Darstellungskraft überbietet Cecilia Bartoli dann noch deutlich, wenn sie als Frau in einer Hosenrolle einen Mann darstellt, der äußerlich immer mehr zur Frau wird – und der seine Verlobte schließlich in Miederkleid und untadeliger „Bartoli-Frisur“ in den Arm nehmen wird.
Besagter Verlobter dagegen, der grandiosen Sopranistin Kathryn Lewek in der Rolle der schottischen Königstocher Ginevra, bleiben - auf die Vollstreckung des Todesurteils wegen Untreue wartend - nur mehr Rock und Stiefel des totgeglaubten Geliebten, um ihre Blöße zu bedecken. Dieses Spiel mit der Geschlechtsidentität wird in der gesamten Produktion konsequent durchgehalten bis etwa zu den eleganten, bis zur Farce kultivierten Damen in der vielbeschäftigten Ballett-Truppe am schottischen Königshof, die doch alle junge Männer sind. Das hintersinnige Zerrbild höfischen Tanzes hat Andreas Heise choreografiert. Das zeitlos „barocke“ Bühnenbild und die ebenso zeitlos klassisch-barocken Kostüme sind Johannes Leiacker und Ursula Renzenbrink zu danken.
Musikalisch und vor allem sängerisch ist dieser „Ariodante“ noch viel bewegender und staunenswerter. Nicht nur, das „La Bartoli“ mit schier unvorstellbarer Virtuosität in den Bravourarien des Ariodante brilliert und auch seine schwachen Momente mit gewohnter Einfühlsamkeit – und zauberhaftem Bartoli-Piano – feiert.
Nicht weniger virtuos und anspruchsvoll ist die Rolle der Königstochter Ginevra, in der Kathryn Lewek alle Facetten stupender Virtuosität zum Leuchten bringt. Die Einsamkeit, Zerrissenheit und moderne Ich-Verlorenheit, die Kathryn Lewek allein in die drei Arien der letzten tragischen Szene vor dem glücklichen Ende zu legen weiß, rührten zu Tränen.
Nathan Berg als König von Schottland, Norman Reinhardt als Ariodantes Bruder Lurcanio, Christophe Dumaux als intriganter Polinesso, Sandrine Piau als Hofdame Dalinda, die aus Liebe zunächst willfährige Helfershelferin zum Betrug, Kristofer Lundin in der kleineren Rolle des Odoardo, eines Günstlings des Königs: Ein solches Ensemble gleichrangiger Virtuosen ihrer jeweiligen Stimmfächer wissen dieser Tage wohl nur die Salzburger Festspiele zur gleichen Zeit auf einer Bühne zu versammeln.
Gianluca Capuano überzeugte als musikalischer Leiter am Pult des jungen Originalklangensembles „Les Musiciens du Prince — Monaco“ mit klangrednerischer Ausdruckskraft und Verve - auch wenn die Sängerinnen und Sänger mit Abstand die aufregenderen musikalischen Leistungen boten.