Vertrauen auf Gott ist nicht umsonst
OSTERFESTSPIELE / MISSA SOLEMNIS
23/03/16 Der Letzte, der an diesem Ort Beethovens „Missa solemnis“ dirigiert hat, war Nikolaus Harnoncourt, im Juli des Vorjahres. Jetzt, im Konzert Nummer drei der Osterfestspiele, Christian Thielemann: auch das eine Aufführung im „Originalton“ – in einem, der uns unterdessen deutlich fremder ist als jener der Aufführungspraktiker.
Von Reinhard Kriechbaum
Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten sehr gewöhnt an den Zugang der „Klangredner“. Zumindest „historisch informierte“ Dirigenten sind der Normalfall geworden. Und dann kommt also Thielemann. Er gründet nicht nur als als Beethoven-Interpret in einer starken, aber bereits sonderbar in die Ferne gerückten Tradition. Er ist ein Solitär der eigen-sinnigen „Uninformiertheit“, was all das Aufführungspraktische der Entstehungszeit anlangt. Er hat sein Metier von deutschen Kapellmeistern (nicht nur von Karajan) gelernt, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts ihre großen Zeiten hatten. Es waren nicht die Schlechtesten. Wenn Thielemann nun völlig unbeirrt und kompromisslos „seinen“ Weg durch die „Missa solemnis“ durchmisst, dann ist das auf seine Weise auch ein O-Ton. Einer, der uns – wieder – staunen lässt.
Beethoven sagt in der „Missa solemnis“ alles zwei oder drei Mal, in unterschiedlichen Gewichtungen und Brechungen. Da findet Thielemann, der wie wenige Kollegen die Ganzheit im Blick hat, geradezu fulminante Wirkungen. Wie auf Watte gebettet darf der Chor des Bayerischen Rundfunks die Tonwiederholungen des Fugenthemas bei „Et vitam venturi saeculi“ ansetzen. Dieser einen, lyrischen Perspektive folgt dasselbe in Einpeitsch-Manier, so dass man unwillkürlich den Kopf einzieht, bevor Thielemann das „Amen“ im Ensemble dastehen lässt, als ob die Zeit selbst an ein Ende gekommen wäre. Da stößt ausgerechnet Thielemann, von Scheitel bis zur Sohle Realist, ein erstes Mal das Tor zur Mystik auf. Die hat er wohl vorbereitet in der Credo-Passage „Et incarnatus est“, die der Chor im Sitzen, gleichsam aus dem Off heraus, zu den samtenen Celli und Kontrabässen einführte und dann die Solisten zur wundersam tiriolierenden Soloflöte in ein magisches Licht gerückt haben. Mag schon sein, dass Haydn ganz richtig lag mit seiner Einschätzung, Beethoven sei ein ausgewiesener Atheist gewesen: Mehr Theater-Imagination ist musikalisch nicht denkbar.
„Was ist Wahrheit“, fragt Pilatus in der Johannespassion. An diesem Abend war sie gewiss nicht an theologischen Phrasen festzumachen (nach dieser Rückbindung trachtete stets Harnoncourt). Thielemann lässt den pan-globalen Sinneneindruck als Göttlichkeit zu, und ist damit Beethoven wohl ziemlich nahe. Wie aus gigantischen Steinen eines Holzbaukstens stellt er gegen Ende des Gloria das „Tu solus sanctus“ hin, heißt er das groß besetzte Orchester (von acht Kontrabässen aufwärts) und den Chor in martialischem Stechschnitt aufs Amen hin vorrücken. Bekanntlich lässt Beethoven es mit diesem Amen nicht gut sein, schickt noch (ganz unliturgisch) einen “Gloria“-Abschnitt nach, den Thielemann orgiastisch übersteigert.
In Erinnerung bleiben von dieser Aufführung geradezu wunderbar ausgehorchte Holzbläserpassagen. Dem Chor schenkt Thielemann nichts, wenn er die Streicher in heutzutage gar fremdartig breit anmutender Artikulation und in tendenziell langsamen Tempi musizieren lässt. Der Chor des Bayerischen Rundfunks löst die Anforderungen souverän. Man wäre an dem Abend nicht auf die Idee gekommen, dass Beethoven dem Chor-Sopran die bis dahin höchsten Töne in der Musikgeschichte zugemutet hat... Wortdeutlichkeit war nicht das Ziel.
Das Solistenensemble, ein eigenes Kapitel: Die wunderbar amalgamierenden Stimmen von Krassimir Stoyanova und Christa Mayer, der dazu sich mit extremer Homogenität fügende Tenor Daniel Behle und schließlich der in keinem Moment vorlaute, denkbar schlank geführte „schwarze“ Bass des Georg Zeppenfeld – eine Gruppe von außerordentlichem Gleichklang in allen Lautstärkeausprägungen. Das Benedictus zu dem ungewohnt süßlichen und vibratoreichen, in diesem Umfeld aber wunderbar aufgefangenen und mitgetragenen Geigensolo von Matthias Wollong war ein Zentrum der Ruhe und Innigkeit.
Am Abend nach den Terroranschlägen von Brüssel durfte man das „Dona nobis pacem“ mit besonderer Aufmerksamkeit mitvollziehen. Wie Thielemann nach den Einwürfen von Pauke und Blech, nach der flehenden Rezitation der Solisten, die ganze Truppe einschwört auf den ruhig-fließenden Sechsachteltakt – das hatte kapellmeisterliches Großformat. Nach dieser Bitte um Frieden und dieser „Missa solemnis“ als Ganzes kann man nur den Schluss ziehen: Vertrauen auf Gott ist nicht umsonst. Definitiv nicht.