Pietismus in der Verkleidung tönender Wollust
OSTERFESTSPIELE / STAATSKAPELLE DRESDEN / CHRISTOPH ESCHENBACH
17/04/19 Stabat Mater dolorosa – der liturgische Text ist zwar vielen geläufig, aber er kommt eigentlich nicht vor in der Wahrnehmung der Kirchenbesucher: Die mittelalterliche Sequenz ist schon beim Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts aus dem Messbuch geflogen. Der Vorteil für Komponisten: Sie können sich an diesem Text so recht wollüstig abarbeiten.
Von Reinhard Kriechbaum
Rücksichten auf kirchliche Zeremonien sind beim Stabat Mater nicht zu nehmen, und Antonin Dvorak, dessen gut anderthalbstündige Vertonung im dritten der Osterfestspielkonzerte am Dienstag (16.4.) in Salzburg zu hören war, hatte vermutlich von vornherein ein anderes Format vor Augen und Ohren als einen Kirchenraum: In der Londoner Royal Albert Hall, vor 12.000 Zuhörern, ist dieser Schmachtfetzen 1884 uraufgeführt worden. Allein der Chor war damals angeblich 840 Stimmen stark. Es muss respektabel gewabert haben, Antonin Dvoraks Weltruhm nahm mit diesem Konzert seinen Anfang.
Ordentlich gewabert – das hat es nun im Großen Festspielhaus auch. Ein großes Stück aus der geistlichen Chor/Orchester-Literatur gehört seit je her zum Kanon der Osterfestspielkonzerte. Gut, wenn man da auch einmal ein Werk ansetzt, das hierzulande keineswegs zu den geläufigen Stücken rechnet. 1990, also vor mehr als einem Vierteljahrhundert, war es bei den Festspielen im Sommer – wahrscheinlich zum bis dato ersten und letzten Mal in Salzburg – zu hören gewesen. Damals in der Kollegienkirche, dirigiert von Peter Schreier.
In einer Zeit, da in der echten Kirchenmusik die Caecilianer (also die Traditionalisten) das Heft in die Hand nahmen und ihren Palestrina wiederentdeckten, führte Dvorak vor, wie geistliche Musik durchaus auch sein könnte: an opernhaftem Applomb orientiert, gleichwohl sentimental in der melodischen Erfindung. Pietismus in der Verkleidung tönender Wollust.
Und genau damit sind wir an der Schwachstelle eines Konzerts, in dem die Ohren zwar randvoll gestopft wurden mit grundsätzlich Vertrauen erweckendern Tönen, in dem aber die Grundfrage interpretatorischer Natur – wie und wozu macht man solche Musik? – offen geblieben ist. Christoph Eschenbach am Pult der Staatskapelle Dresden hat mit diesem Orchester, das man an den letzten Abenden so differenziert und klangsinnlich erleben durfte, in der Causa Dvorak nicht mehr als ein pauschal-diffuses Klangbild erreicht. Ein Orchester ist einem Dirigenten in solcher Musik schon ziemlich ausgeliefert, wenn dem nicht mehr einfällt als recht oberflächliche Wechsel von Mezzopiano und Forte.
Widerständiger war da schon der von Howard Arman einstudierte Chor des Bayerischen Rundfunks, der sich wenig hat irritieren lassen von der dicklichen Grund-Lautstärke dieser Nicht-Interpretation. Im Solistenquartett haben Elisabeth Kulman (Mezzospopran) und René Pape (Bass) sehr deutlich anklingen lassen, wie schlank und artikulationsgenau man diese Musik eigentlich angehen müsste. Venera Gimadieva (Sopran) hat sich von den Orchesterwogen nicht unterkriegen lassen und der kroatische Tenor Tomislav Mužek als kürzestfristiger Einspringer hat sich wendig eingefügt ins Solistenquartett.
Bilanz: eine Wiedergabe mit ur-sattem Sound, moderat bis verschlurft in den Tempi – und in gehörigem Abstand zum emotionalen Gehalt des Werks.