Kein Musik ist ja nicht auf Erden...
OSTERFESTSPIELE / STAATSKAPELLE / MARISS JANSONS
15/04/19 Manchmal lockt ein Titel, auch in den englischsprachigen Programmhefttext hinein zu lesen. Vor und nach dem 19. Jahrhundert – Österreich-ungarische Symphonien in G heißt der Beitrag über die auf den ersten Blick fast absurd anmutende Verbindung von Haydns Militärsymphonie mit Mahlers Vierter.
Von Reinhard Kriechbaum
Aber letztlich bringt Lesen nicht weiter – man musste schon die Ohren aufmachen im ersten Osterfestspiel-Konzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden am Sonntag (14.4.). Mariss Jansons hat es den Hörern denkbar leicht gemacht, sich einen Reim aufs scheinbar so ganz und gar nicht Reim-Taugliche zu machen. Die Tonart G ist dabei völlig belanglos.
Joseph Haydn, im Frühling 1794 zum zweiten Mal gefeierter Gast in London, hat diese Stadt vermutlich als beispiellos kosmopolitisch empfunden. Vielleicht hat er in der Militärsymphonie Hob. I:100 ganz gezielt vorzeigen wollen, dass auch dem Wien seiner Zeit etwas Weltsichtiges eignete. Nicht bloß wegen der unterschiedlichen Idiome im habsburgischen Vielvölkerstaat. Nachdem der orientalische Erzfeind weit zurückgeschlagen war, kam das Türkische groß in Mode. In der Musik wurden die Schlaginstrumente der Janitscharenmusik erst zur Würze und bald zum elementaren Stilmerkmal unserer Blasmusik.
Mariss Jansons hat das Janusgesichtige dieser Symphonie aufgeschlüsselt, mit dem Gestus eines Erzmusikanten und mit dem Sachverstand eines in großen Zusammenhängen denkenden Musikers. Da sind ja so viele Themen, die nur scheinbar in Rokoko-Biederkeit daher kommen. Sie werden von Haydn aber im sprichwörtlichen Handumdrehen konzis ausgereizt bis an die (von diesem Komponisten selbst ausgemessenen und festgeschriebenen) symphonischen Grenzen des ausklingenden 18. Jahrhunderts. Diese Grenzen lagen da schon deutlich jenseits von Mozarts Jupiter-Symphonie. Mariss Jansons und die ihm mit der ihr eignenden Einsatzbereitschaft folgende Staatskapelle haben sich also mit spontan anmutender Neugier eingelassen auf diese Optionen einer Musik-Verwandlung in eine von den Zeitgenossen damals wohl kaum erahnte symphonische Übergröße. Kein Auftakt-Achtel, das nicht individuelles Gewicht bekommen hätte, kein Instrumentationsdetail, das Jansons und die Seinen nicht eingebunden hätten in ein weit über die Zeit weisendes Musik-Tableau voll von anregenden Einzelheiten.
Das war tragfähig genug, um das „türkische“ Schlagzeug ordentlich dreinfahren zu lassen. Allergrößte Überraschung: Im Finale ließ Jansons seine Dresdner Jungtürken durch den Zuschauerraum ziehen. Sogar einen Schellenbaum hatten sie dabei! Standing Ovations also schon nach der ersten halben Konzertstunde, nach der Mariss Janssons den Karajan-Preis entgegen nehmen durfte. Wer verdiente ihn mehr als er?
Dann also Mahler. Nein, in der Vierten finden sich nicht, wie sonst allenthalben in Mahlers Symphonik, jene Militärsignale, die dem Kind Mahler im märischen Iglau aus der benachbarten Kaserne in die Ohren geklungen haben. Die vierte Symphonie ist vom ersten Takt an voll mit jenen himmlischen Freuden, die der Komponist im Wunderhorn-Volksliedschatz fand. Man könnte nun Satz um Satz durchgeklinieren, wie Jansons dieses Melodiepartikel quasi unters Mikroskop legt, wie er sie in ganz unterschiedlichen Vergrößerungen und Auflösungen vorzeigt, sie einmal im Auflicht und dann wie in einem feinen Mikrotomschnitt mit durchscheinendem Licht präsentiert. Metamorphosen des Vielgestaltigen, wie sie nur – und da sind wir beim Brückenschlag zu Haydn – eben nur Schöpfer mit Antenne zum Kosmopolitischen erdenken können.
Diesen multikulturellen Blick hat ja auch Mariss Jansons, der das Dirigieren Karajan, Mrawinski und (nicht zu vergessen bitte!) dem legendären Hans Swarowski abschaute.
Himmlische Freuden: Von denen sang im vierten Satz dann, mit der denkbar un-affektiertesten Selbstverständlichkeit und Geradlinigkeit, die junge Schweizer Sopranistin Regula Mühlemann. „Kein Musik ist ja nicht auf Erden“, heißt es da am Schluss, und wie die Harfenistin und die Kontrabässe der Staatskapelle diese Himmelssphärenmusik haben ausklingen lassen, wird man sich lange merken.