Von Herzen gehend
CD-KRITIK / CONCENTUS MUSICUS / NIKOLAUS HARNONCOURT
26/07/16 Heuer hätte er bei den Festspielen Beethovens Neunte gestalten wollen – dazu kam es nicht mehr. Im Vorjahr leitete Nikolaus Harnoncourt in Salzburg und Graz die „Missa solemnis“. Ihr jüngst erschienener Mitschnitt von der Styriarte wurde sein Vermächtnis.
Von Horst Reischenböck
Er fand als selbst tief-gläubiger Katholik erst relativ spät seinen persönlichen Zugang zu Ludwig van Beethovens alle kirchlichen Dimensionen sprengendem Riesenopus 123: Im Juli 1992 debütierte Nikolaus Harnoncourt dann erstmals mit der „Missa solemnis“ bei den Salzburger Festspielen, damals mit dem Chamber Orchestra of Europe.
Das regt natürlich zum Vergleich an: Das Solistenquartett damals wirkte beispielsweise viel „opernmäßiger“ – Eva Mei (Sopran) und Marjana Lipovšek (Alt) bestürzen noch heute mit ihren ersten Einsätzen. Der Unterschied zu den weitaus linearer geführten Stimmen 23 Jahre später ist eklatant: Die Stimmen von Laura Aikin und Bernarda Fink wirken bei schlanker, keuscher. Ähnliches gilt für den Vergleich zwischen dem Tenor Anthonx Rolfe mit Johannnes Chum, vor drei Jahren in Wien Harnoncourts Jacquino im „Fidelio“. Nur der fundamental tief-orgelnde Robert Holl hält die Waage zu dem aus der Schweiz stammenden Bass Ruben Drôle, der Harnoncourt schon bei den Festspielen in Haydns Oratorium „Il Ritorno di Tobia“ zur Seite stand.
Schon 1992 sang der Arnold Schoenberg Chor, ein Ensembe von stets gleichbleibender Qualitä6, schlagkräftig im Forte, präsent und klar im zartestem Pianissimo, strahlend in den Höhen und - gar nicht selbstverständlich bei dieser Vorlage - textdeutlich und wortverständlich.
Das absolute Plus ist indes der Concentus Musicus Wien auf seinen Originalinstrumenten, obwohl Harnoncourt auch schon das Chamber Orchestra auf ventillosen Hörnern und Trompeten nebst eng mensurierten Posaunen musizieren hieß. Aus dem Concentus heraus wirkt der kriegerische Schock im fordernden Agnus Dei unmittelbarer, mischen sich die Holzbläser von Anfang an weit intimer, und das zärtliche Violinsolo im Benedictus spielt Erich Höbarth viel introvertierter als dazumal Kollegin Marieke Blankenstijn.
Was frappiert, ist wie drängend Harnoncourt nun die Bitte um Erlösung im Kyrie um fast zweieinhalb Minuten kürzer gestaltete. Obwohl die Gesamtdauer dann wieder fast identisch ist. So geriet das Ganze nicht nur zu einem Vermächtnis, das Nikolaus Harnoncourt als letztes Dokument seiner Arbeit veröffentlicht wissen wollte, sondern zu einer beglückenden Reverenzaufnahme.