Es gilt das gesungene Wort
CD-KRITIK / MUSIK DER BACH-FAMILIE
14/09/21 Vielleicht, sicher sogar sollte man sich diese CD zwei Mal, besser drei Mal geben. Aufs Erste unbedingt ganz Ohr für den Bariton Benjamin Appl, der zur Zeit Maßstäbe setzt in Sachen Wortdeutlichkeit und Textgestaltung, nicht nur im Lied-, auch im Oratoriengesang.
Von Reinhard Kriechbaum
Nicht einmal käme man in Versuchung, zum gedruckten Text zu greifen, auch in einem bis dato unbekannten Werk wie Carl Philipp Emanuel Bachs früher Kantate Ich bin vergnügt mit meinem Stande. Und im zentralen Stück dieser CD, der Kantate Pygmalion von Johann Christoph Friedrich Bach, steht das Erzählerische sowieso im Mittelpunkt. Da ist Benjamin Appl ganz in seinem Element, steuert diszipliniert durch die ausreichend kolorierten Affekte, ohne auch nur ein Mal zu übers Ziel hinaus zu schießen, aber auch ohne die Emotionen herunter zu spielen. Dieses Werk lebt von den die drei Arien aufs Üppigste rahmenden Accompagnato-Rezitativen. Der Bildhauer, (selbst)verliebt in die von ihm geschaffene Frauenfigur, durchlebt Sehnsucht und Verlangen in allen Graden. Er wird geradezu vom Donner gerührt, wenn Röte ins Gesicht der marmornen Elise steigt (so heißt die allmählich durchblutete Dame): „Erstickendes Vergnügen! Töte mich nicht eher, bis ich sie an mein Herz gedrückt!“ Was dann abläuft? „Ja, diese leichte Mühe, dies selige Geschäft, dies stündliche Vergnügen behielt mir meine Göttin vor“, heißt es kryptisch...
Zweiter Durchlauf: Da wäre eine Apfel-Fallhöhenvermessung innerhalb der Bach-Familie angesagt. Man sagt ja, dieses Obst falle nicht weit vom Stamm. Nimmt man den Stilwandel zwischen dem Thomaskantor und seinen Söhnen, ist die Entfernung freilich doch gewaltig. Fast hinterhältig, dass Reinhard Goebel mit der ersteingespielten Kantate des jungen C. Ph. E. Bach Ich bin vergnügt mit meinem Stande und des Vaters Evergreen Ich habe genug einen in der Stückqualität spannungsvollen Rahmen vorgibt. Beide Stücke sind inhaltlich aufeinander bezogen, indem der Ich-Erzähler jeweils hundertprozentig, fast mit kindischer Naivität. mit sich und seinem Gott im Reinen ist.
Und dann vielleicht doch das pointierte Feuilleton von Reinhard Goebel im Booklet lesen und aufs Neue, ein drittes Mal mit dem Hören anfangen: Goebel ist bekanntermaßen nie um starke Sager auch nicht um Polemik verlegen. Da spricht er in Hinblick auf Ich habe genug vom „brillantesten Feuerwerk des ausgehenden Barock“ und mutmaßt, dass Bach damit „nicht nur die sonntäglichen Kirchgänger in Leipzig, sondern auch die entschiedene Opposition junger Wilder – Herr, vergib' Ihnen, denn sie wußten nicht, wie zahm sie waren – provozierte“.
Ganz so zahm waren sie dann ja doch nicht: Als Ersteinspielungen enthält diese Aufnahme auch zwei Sinfonien: Die eine, mit „Mons. Bach de Berlin“ überschrieben, kommt wohl aus der Feder des Carl Philipp Emanuel. In deren Adagio-Satz zündet Goebel mit den Berliner Barock Solisten ein kleines, aber leuchtkräftiges Feuerwerk aus originellem Zündstoff. Allein diese zwei Minuten rechtfertigen übrigens, dass Goebel unterdessen mit dem Wissen um „alte“ Rhetorik, übertragen auf moderne Instrumente, einen so eigenständigen wie die Diskussion beflügelnden Beitrag zur Aufführungspraxis leistet. Das könnte man in dieser CD Stück um Stück exemplifizieren, auch sehr gut an der – ebenfalls ersteingespielten – Sinfonie in B-Dur von Wilhelm Friedemann Bach. Den beiden älteren Bach-Söhnen bescheinigt Goebel übrigens einen „verhängnisvollen Zug“: „die Kunst des Vaters durch noch mehr eigene Kunst zu überhöhen und im freien Flog der Gedanken auch Dinge zu Papier zu bringen, die harmonisch eher spekulativ und technisch letztlich unspielbar sind.“ Wer Reinhard Goebel kennt, weiß, dass da einer auf Widerspruch spitzt – aber was er mit den Berliner Barock Solisten umsetzt, die ja nicht wenig brillant werken, ist mehr als überzeugend. Und um den Bogen zu schließen: gerade im Dialog mit Benjamin Appl reagieren Goebel und das Ensemble wie spontan und in den Affekten ausgeklügelt unterstützend.