Hinterlistige Ironie und überirdische Schönheit
MOZARTWOCHE / WIENER PHILHARMONIKER / HARONCOURT
25/01/15 „Es geht um Tod und Leben“, so Nikolaus Harnoncourt über die „Unvollendete“. In geradezu überirdischer Geschlossenheit hat er das Stück mit den Wiener Philharmonikern bei der Mozartwoche hören lassen.
Von Reinhard Kriechbaum
Vielleicht gibt es in Wirklichkeit zwei Orchester namens Wiener Philharmoniker. Jene Gruppe von ziemlich jungen Leuten, die sich am Samstag (24.1.) im Großen Festspielhaus mit leidenschaftlicher Ambition Harnoncourts Sache zu eigen machte, zeigte eine auffallend geringe Schnittmenge mit jenem Orchester, das der ORF am Neujahrsmorgen via Mattscheibe zuliefert. Die junvenile Garde der Wiener Philharmoniker ward also diesmal nach Salzburg abgestellt. Eine Generation, die völlig unbelastet von Tradition, Besserwisserei oder gar Schlendrian an die Sache rangeht. Und eine neue Generation von Orchestermusikern, für die Harnoncourt nicht mehr tendenziell Reibebaum, sondern selbst schon historische Instanz ist.
Lebende Pult-Geschichte von – man muss es immer wieder bewundernd hervorheben – sagenhafter Vitalität: Man nimmt Harnoncourt seine 85 Jahre noch ab, wenn er hereinkommt – aber nicht mehr, nachdem er den ersten Einsatz gegeben hat. Die mentale Kraft des alten Herrn beeindruckt gerade dort, wo er übers eigentlich „Klangrednerische“ weit hinaus zu blicken hilft. Diese in sich so wundersam sich rundende „Unvollendete“ – da darf man eigentlich nichts zerreden oder zer-schreiben. Es war die in zwei antithetisch gefasste Sätze gegossene Sicht aufs Ganze. Eines jener raren Konzert-Erlebnisse, die man unlöschbar einbrennen möchte ins Gedächtnis.
Ganz anderer Natur der Teil vor der Pause. Urwüchsiges Musikantentum, quasi gefiltert durch die Holzbläser-Feinheit der Philharmoniker, prägte die Ouvertüre zum Melodram „Die Zauberfarfe“, die als „Rosamunden-Ouvertüre“ populär ist. Schon da durfte man darüber nachdenken, wie sehr die in Wien ausgebrochene Rossini-Infektion noch vier Jahre nach der Erst-Infektion weiter wirkte. Seine Sicht gerade darauf legte Harnoncourt dann auch in Worten ans Publikum dar: Die Sechste Symphonie, in der Schubert-Forscher eine Hinwendung zu Rossini sähen, sei in Wirklichkeit pure Ironie: „Ins Finale schreibt Schubert richtigen neapolitanischen Kitsch und will seinem Publikum sagen: 'Und das g‘fallt euch'?“ So Harnoncourt in der ihm eigenen Anschaulichkeit.
Ein Spiel mit Ironie, mit Wienerischem Schmäh: Das setzte Harnoncourt mit der von ihm gar nicht mehr anders erwarteten Langsamkeit um. Wo andere das eine Oktave hinauf- und wieder hinunterkletternde Thema im Finalsatz schnurren lassen, lässt Harnoncourt deutliche Atempausen machen, nimmt er die Vorschrift „Allegro moderato“ wirklich beim Wort. Wie sich da die Oboen, Klarinetten und vor allem die Flöte ins Zeug gelegt haben, wie viel vorsichtige Delikatesse die Geigen einbrachten: Da war spürbar, dass die Orchestermusiker vielleicht im Moment selbst verblüfft waren, was da ur-plötzlich rauskommen kann an leisen Pointen. Auf kein Wiederholungszeichen möchte man da verzichten, ja – man hätte manchen Abschnitt zu gerne noch ein drittes Mal hörend ausgekostet.
In seiner Wortmeldung hatte sich Harnoncourt auch über den Unterschied zwischen „Decrescendo“ und „Dimininuendo ausgelassen. Beide Begriffe verwende Schubert, und – endlich – habe er des Rätsels Lösung aufgetan: Während das eine bloß Leiser-Werden bedeute, fordere das Diminuendo auf, auch mit dem Tempo zurück zu gehen. Es werde von allem weniger… Das ließ Harnoncourt vor allem im Andante-Satz der „Sechsten“ geradezu exzessiv ausführen. Ein Satz, der bei Harnoncourt eben nicht nur hübsch „tickt“, sondern wegen seiner Tempo-Rückungen mannigfaltige Überraschungen bereit hält. Listige Ironie eben, nicht oberflächlicher Scherz: Man durfte viel Neues heraushören.