Wie viel Wahrheit halten wir aus?
LITERATURFEST / LESEPROBE / GRUBER
16/05/17 Wie wird ein Kriegsfotograf mit den Schrecken des Friedens fertig? Sabine Gruber liest morgen Mittwoch (17.5.) bei der Eröffnung des 10. Literaturfests aus ihrem Roman „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“. – Hier eine Leseprobe.
Von Sabine Gruber
Die Kälte, die sich nach dem Sonnenuntergang auszubreiten begann, erst kaum merkbar, weil die Haut sich noch an die Hitze des Mittags und die Wärme des späten Nachmittags erinnerte, kroch nach und nach in die dünnen Anoraks, T-Shirts, Hosen und langen Röcke, biß sich darin fest, so daß die zwei Frauen, die hinten saßen, mit den Zähnen zu klappern begannen, den Kopf auf die Brust sinken ließen und ihre Scheu vergessend, noch näher an ihre Nachbarn heranrückten.
Von den neunundvierzig Passagieren, die in Zuwara an Bord gegangen waren, konnten nur einige Männer und eine Frau schwimmen. Mit Schiffen vertraut war niemand, nicht einmal die zwei offiziellen Steuermänner hatten Erfahrungen auf See gesammelt. Die Ägypter hatten vorgegeben, sich auszukennen, in Wirklichkeit waren auch sie nie mit einem Boot aufs offene Meer hinausgefahren. Die beiden waren in den Augen der Fahrenden Wegweiser in der Weite des Meeres, Führer, denen alle vertrauten, weil sie für die Reise bezahlt und monatelang auf den – wie es hieß – idealen Tag der Überfahrt gewartet und dafür eine große Summe an Madame Ganat entrichtet hatten. Keiner erzählte, daß Madame das Geld zweimal, bei der Aufnahme in deren heruntergekommenes, überfülltes Haus und viele Monate später beim Aufbruch nach Lampedusa verlangt hatte, keiner sagte laut, daß man ihm sein letztes Erspartes, das für den Neuanfang in Italien gedacht gewesen war, abgenommen, daß er in der Aufregung der plötzlichen, seit Monaten herbeigesehnten, aber fast nicht mehr erwarteten Abreise widerstandslos die Dollarscheine an die Schlepper übergeben hatte. Andernfalls wäre sein Platz in dem randvoll besetzten Boot jemand anderem überlassen worden. Manche schwiegen, weil sie ohnehin niemand verstanden hätte oder weil die eigene Angst und die Ungewißheit über den Verlauf der Reise ihnen den Mund verschlossen.
Die zwei Ägypter hielten beide eine kurze Eisenstange in der Hand; vom älteren hieß es, er trüge noch eine andere Waffe bei sich. Sehr bald war allen klar, daß die Stangen keine der Bootsfahrt nützlichen Gegenstände waren, sondern als Waffe benutzt wurden, als Respekt verschaffende Schlaginstrumente, mit denen die Bootsinsassen ruhig gehalten wurden. Marik war zweiundzwanzig, er war weniger brutal als Kamal, dr nichts von sich preisgab, vermutlich weil er fürchtete, daß die anderen Frauen und Männer persönliche Äußerungen als Zeichen der Schwäche interpretieren könnten. Kamal schrie von Anfang an, Marik nur, wenn Kamal ihn dazu aufforderte.
Beide reisten gratis, weil Steuermänner immer gratis übersetzen durften. Kamals Haut war von dünnen schwarzen Haaren bewachsen, selbst das Gesicht wies mit Ausnahme der Augen-, Nasen- und Mundpartie dunkle Haarschatten auf. ie Stunden zuvor waren ruhig verlaufen. Am Abend wuchsen die Wellen zum ersten Mal, das Boot schaukelte heftig, es schien jedes Mal, als fiele es von einer hohen Welle in einen Abgrund. Wasser drang ein. Nuruddin, der jüngste Somalier – er war fast fünfzehn –, hatte sich übergeben und es nicht rechtzeitig an die Bordkante geschafft. Der Geruch des Meeres war intensiv, egal woher die Winde kamen, als habe das Erbrochene die Duftwolkendecke verstärkt. Sie erinnerte an Fäulnis, an Schwefel, und die am Morgen über dem Boot kreisenden Seevögel bekräftigten die Vorstellung von verwesender Materie. Nachdem die turbulente Nacht vorüber war, machte sich Erleichterung breit. Die meisten der Bootsinsassen waren eben erst eingeschlafen oder dösten, als das Tuckern des Motors abrupt aussetzte. Viele dachten wohl, sie hätten den größten Teil der Strecke hinter sich gebracht, sie schliefen aus Erschöpfung über die durchwachten unruhigen Stunden, wähnten sich schon in Sicherheit, weil sie sich nach dem hohen Seegang keinen noch höheren vorzustellen vermochten, ihn sich nicht mehr vorstellen wollten.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages C.H. Beck