Wovor Sie davonlaufen?
KRIMIFEST PENG / LESEPROBE / GERCKE
02/11/16 „Doris Gercke prangert in ihren Kriminalromanen Missstände und politische Doppelmoral an. Sie zeigt, wie brutal die so genannte Demokratie sein kann, dass Menschen für ihren eigenen Vorteil über Leichen gehen... „Wo es weh tut“ ist ihr neuer Krimi um die Ermittlerin Milena Proháska. - Hier eine Leseprobe.
Von Doris Gercke
„Du warst gut“, hatte er gesagt und dabei in seine Kaffeetasse gesehen.
„Ja“, hatte Milena geantwortet. „Ich war schon immer eine gute Hure. Kannst du dich an unsere erste Begegnung erinnern?“
„Lass das“, hatte er geantwortet.
Er wollte nicht, aber er hatte die Szene von damals genau vor sich gesehen.
Es hatte damit angefangen, dass sie sich in den Sessel setzte, die Beine übereinanderschlug und sagte: „Jetzt, wo alles Unwesentliche besprochen ist, möchte ich gern wissen: Wovor laufen Sie eigentlich davon?“
Beringer war überrascht gewesen, hatte aber nicht die Absicht gehabt zu antworten, sondern war aufgestanden, um das Gespräch zu beenden. Sie war sitzen geblieben.
„Wir sind Partner“, hatte sie gesagt.
Heute war er sicher, dass es kein Zufall gewesen war, dass ihr Rock höher rutschte, während er vor ihr gestanden und auf sie hinunter gesehen hatte.
„Möchten Sie, dass ich Ihnen sage, wovor Sie davonlaufen?“, hatte sie scheinheilig gefragt.
Und dann hatte er nein gesagt, und seine Stimme war so heiser gewesen und sein Mund so trocken, dass er eigentlich schon verloren gewesen war.
„Möchten Sie, dass ich Ihnen zeige, wovor Sie davonlaufen“, hatte sie wiederholt und war aufgestanden. Zwischen seinem und ihrem Körper war kaum noch Platz gewesen. Sie hatte sich umgedreht, und er hatte gewusst, dass sie sein Geschlecht in ihrem Rücken spürte, und es war ihm plötzlich vollkommen richtig erschienen, seine Hände um ihre Hüften zu legen, und er hatte es gemacht, einfach so, im Stehen, mit dieser Frau, die er kaum kannte, und mit Dingen im Kopf, die mit ihr überhaupt nichts zu tun hatten.
„Wir sollten endlich klarsehen“, hatte sie gesagt, als sie sich bei ihrer letzten Begegnung in der Kantine des Gerichts gegenübersaßen. „Du wirst ewig der verklemmte Spießer bleiben, der du bist, und ich werde immer wieder das tun, wozu ich Lust habe. Lust, verstehst du? “
Er hatte verstanden, war aufgestanden und gegangen.
Draußen auf der Treppe vor dem Strafjustizgebäude hatten sich noch immer die Reporter gedrängt, die auf Milena warteten.
In der alten Villa, die ihm gehörte und in der Milena und er mit Ronnys Hilfe bis dahin die Kanzlei unterhalten hatten, war Ronny ihm entgegengekommen.
„Ich hab’s im Radio gehört, auch den Kommentar“, hatte Ronny gesagt.
„Es ist vorbei“, hatte er geantwortet. „Sie lässt ihre Sachen holen.“
Ronny war stumm geblieben.
„Diesmal ist es endgültig“, hatte er hinzugefügt, war wortlos die Treppe hinaufgegangen und hatte bei jedem Schritt gespürt, wie der Schmerz in dem zerschossenen, steif gebliebenen Knie zunahm.
Er hatte Milena nicht wiedergesehen. Ein paar Mal hatte Ronny versucht, mit ihm darüber zu sprechen, wohin sie gegangen sein könnte. Dann war ihr Name zwischen ihnen nicht mehr erwähnt worden. Eine Weile hatte er Ronny im Verdacht gehabt, auf eigene Faust nach Milena zu suchen. Vielleicht hatte er das sogar wirklich getan. Gefunden hatte er sie jedenfalls nicht, so viel stand fest. Ronny hatte Milena bewundert, ja verehrt. Es wäre ihm unmöglich gewesen zu verbergen, dass er entdeckt hatte, wohin sie gegangen war.
Mit freundlicher Genehmigung des Haymon Verlages.