Hinter dem Birnenfeld die Freiheit
RAURISER LITERATURTAGE / BUCHBESPRECHUNG / EKVTIMISHVILI
28/03/19 Ein scharfsinniges Porträt der georgischen Gesellschaft der 1990er Jahre zeichnet Nana Ekvtimishvili in ihrem Debütroman Das Birnenfeld. In den Mittelpunkt stellt sie dabei jene, die sonst am Rand stehen: die Debilen aus der Kertsch-Straße.
VON VERENA RESCH
In einem Außenbezirk von Tbilissi, da, wo die Straßen keine Namen haben, stößt man auf eine Straße, die doch einen Namen trägt: die Kertsch-Straße, benannt nach den Helden der ukrainischen Stadt Kertsch. Hier inmitten einer Plattenbauwüste, in der man Sehenswürdigkeiten, historischen Bauten oder Springbrunnen vergeblich sucht, befindet sich die Debilenschule.
Die Kinder, die in diesem Internat für geistig beeinträchtigte Kinder leben, sind es, von denen Nana Ekvtimishvili erzählt. Im Mittelpunkt steht Lela, die Älteste unter den Internatsbewohnern. Eigentlich schon seit drei Jahren mit der Schule fertig, darf sie als Pförtnerin trotzdem noch bleiben. Sie kümmert sich um die Jüngeren und nimmt sie unter ihre Fittiche, denn sie kann niemand mehr drangsalieren. Aus ihrer Sicht wird die Handlung geschildert, diese persönliche Erzählperspektive ist auch der Grund, weshalb nie eindeutig geklärt wird, ob die Kinder tatsächlich alle geistig beeinträchtigt oder einfach von der Gesellschaft Ausgestoßene sind.
„Ich töte Wano.“ Schon mit Lelas erstem Satz zeigt sich dem Leser eine Welt, in der Gewalt und Missbrauch alltäglich sind und in der sich junge Mädchen prostituieren, um wenigstens an etwas Geld zu kommen. Und doch gibt es inmitten dieses trostlosen, deprimierenden Alltag, in dem die Kinder gefangen sind, Momente, in denen sich etwas wie Gemütlichkeit breit macht, „als wären sie alle eine große Familie und hätten doch ein schönes Zuhause“.
Für Irakli, den Lela besonders unter ihre Fittiche genommen hat, eröffnet sich eines Tages die Möglichkeit, aus der tristen Welt auszubrechen, als ihn ein amerikanisches Ehepaar adoptieren möchte. Deren Besuch verursacht im Internat große Aufregung und ist für die Kinder, die nur diese enge Welt kennen, der Beweis, dass es dieses Amerika jenseits der Kertsch-Straße, Tblissi und Georgien tatsächlich gibt.
Ehe man erfährt, warum ein 18-jähriges Mädchen seinen Geschichtslehrer umbringen will, muss man sich lange gedulden. In lose aneinandergereihten Episoden werden zuvor die Geschichten und Schicksale gegenwärtiger und ehemaliger Schüler beleuchtet. Schonungslos berichtet Ekvtimishvili von der oft brutalen Gewalt, die unter den Bewohnern der Kertsch-Straße herrscht und dabei für diese schon zur Realität geworden ist. Besonders deutlich wird dies in den Reaktionen des Besuchs aus Amerika, die von den Regeln die diesem Kosmos gelten, entsetzt sind.
Zum Ende des Romans steuert die Autorin schließlich auf einen überraschenden Showdown zu, der trotz aller Tristesse dieser Welt ganz leise einen kleinen Schimmer von Hoffnung bewahrt - ohne jeglichen Kitsch. Und überhaupt, „bedenkt man, dass die Helden der Stadt Kertsch erst nach 31 Jahren gewürdigt wurden, könnte sich eines Tages vielleicht doch noch herausstellen, dass auch in den stinkenden Wänden des Internats in der Kertsch-Straße echte Helden gelebt haben“.