Irgendwann kommen wir alle ins Minus
GRAZ / DIAGONALE / DER BODEN UNTER DEN FÜSSEN
19/03/19 „Fitter, happier, more productive“ steht an der Eingangstür zum Fitnessraum im Hotel. Dort strampelt sich Lola ab. Sie hält das für ein Auftanken, für „48“. Die Zahl ist in der Unternehmensberatung ein Code fürs Ducharbeiten ohne Schlaf. – Mit dem Film „Der Boden unter den Füßen“ beginnt heute Dienstag (19.3.) in Graz die Diagonale, das Festival des österreichischen Films.
Von Reinhard Kriechbaum
Lolas Leben? Krank, keine Frage, weil Gesundheit vorausgesetzt wird wie seelische Robustheit. „Ein Burnout ist in unserer Branche wie Lepra“, sagt die Chefin. In den Konferenzräumen, wo Firmen saniert und Mitarbeiterinnen wegrationiert werden, sind selbstgewisse „48er“ wie Lola eben das denkbar Normalste. In der Psychiatrie liegt nach einem Selbstmordversuch Conny, ihre ältere Schwester. Lola ist ist Vormund der an Schizophrenie Leidenden. Doch über so etwas spricht man nicht in Lolas Kreisen. Klammheimlich fliegt sie heim nach Wien, auf Stippvisite ins Krankenhaus. Hier lechzt ein Conny – Pia Hierzegger spielt die Patientin – nach Zuwendung, Nähe, familiärer Geborgenheit.
Lola hingegen ist aber eine von jenen, denen das Wort Empathie bestenfalls als abstrakter Begriff aus der Psychologie bekannt ist. Schmallippig und mit zusammengekniffenen Augen hält sie das Leben rundum von sich fern. Lola hat sich 150prozentig an- und eingepasst in das wirtschaftliche Karrieremodell. Valerie Pachner spielt diese junge Frau, in deren Welt das Wort Familie nicht vorkommt, wo man Beziehung, wenn überhaupt, geheim lebt.
Weder die Psychiatrie noch das Firmensanierer-Gewerbe kommen bei der Regisseurin Marie Kreutzer, die auch das Drehbuch geschrieben hat, besonders gut weg.Sie macht ihre Geschichte mit erheblichem Mut eigentlich ausschließlich an Stereotypen und Klischeebildern fest. Aber sie bricht genau diese platten Vorstellungen, nicht zuletzrt mit Hilfe einer präzis-nahen Kameraführung (Leena Koppe) und aussagekräftigen Räume (Szenenbild: Martin Reitner).
Da springt einen die Armseligkeit von Besprechungs-, Hotel- und Fitnessräumen oder von unbewohnten Wohnungen bedrohlich an. In diesem Environement entgleist schließlich Lola, die Erfolgreiche. Minute um Minute verliert sie selbst jenen Boden unter den Füßen, den ihre Schwester vermutlich gar nie als tragfähig erlebt hat. „Vollwaise, alleinstehend, kinderlos“, wird sich Lola schließlich gegenüber dem Psychiater erklären, und das ist eine denkbar armselige Bilanz für eine etwa 35jährige Frau, die den beruflichen Erfolg scheinbar gepachtet hatte.
Das Kranke meint eben nicht nur ausdiagnostizierte Fälle für die Psychiatrie. Kurz scheint diese dramaturgisch fulminant gebaute Geschichte einer persönlichen Destabilisierung ins Horrorgenre abzugleiten: Immer wieder bekommt Lola nämlich Anrufe von Conny, die diese aus der Psychiatrie gar nicht tätigen könnte. Der Strang wird nicht weiterverfolgt, die Filmemacherin nutzt diesen Anflug von Surrealem, um den drohenden Kontrollverlust anschaulich zu machen. Sage keiner, die Businessfrau Lola hätte die Zeichen nicht gesehen...
Brillant nicht nur die schauspielerische Leistung von Valerie Pachner. Fast eine Spur zu kräftig depressiv wirkt Pia Hierzegger. Glatt, unangreifbar und ungreifbar Mavie Hörbiger in der Rolle der Chefin Elise. Aber keine Frage wohl: Auch die wird einmal den Boden unter den Füßen verlieren. Sie nimmt nicht wenig Aufputschmittel, zeigt ein Blick in ihr Handtäschchen: „Irgendwann kommen wir alle ins Minus.“