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Geschichtsschreibung – das Werk von Dichtern

IM WORTLAUT / SALZBURG 20.16 / FESTREDE BECHTOLF

15/04/16 Der Schauspieler und Regisseur Sven-Eric Bechtolf, Künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele, hat am Donnerstag (14.4.) in der Residenz die Festrede gehalten – eine sprachmächtige und bilderüppige Annäherungen an das Wesen der Geschichte, von der die Erde und unser Land, wie es einmal heißt, „wieder erfasst“ sei. – Die Rede im Wortlaut.

Von Sven-Eric Bechtolf

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist eine große Ehre für mich, heute, anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der Zugehörigkeit Salzburgs zu Österreich, zu Ihnen sprechen zu dürfen. Leicht wiegt diese Ehre freilich nicht, immerhin gilt es, auf zwei Jahrhunderte zurückzuschauen, eine – je nach Perspektive – sehr kurze oder sehr lange Zeit.

Historiker haben ihre Schlüsse, Bewertungen und Analysen dieser an grundstürzenden Ereignissen mehr als reichen Jahrhunderte vorgenommen und werden es auch weiterhin tun. Ich hingegen habe vor allem Fragen; und zu allem Überfluss gelten sie mehr dem Begriff, den wir uns von Geschichte oder von der Geschichtsschreibung machen, als den in Rede stehenden Epochen. Diese Fragen werden allerdings keinen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, sie befinden sich im Bereich des Widerlogischen und stellen sich nur mit geschlossenen Augen, im Halbschlaf sozusagen, ein.

Einige dieser obskuren Überlegungen lauten zum Beispiel:

Was wiegt die verstrichene Zeit?

Geht alles Gewesene in dünne Luft auf? Oder nicht einmal in Luft?

Besteht Geschichte aus einer Art Häuten, oder besser, aus abgefallenen Schleiern, vorsätzlich und willkürlich gewirkten, die von den noch lebenswarmen Schultern hinsinkender Generationen gleiten, herab zu ihren Vorgängerinnen, wo sie sich zu Türmen aufstapeln, verklumpen und verhornen und so ein gewaltiges Fundament bilden, auf dem wir, in verdienstloser Höhe thronend, in unsere Zeit hineinragen, die Stirne in die Zukunft gereckt? Wartet dort ein zu erreichendes Ziel?

Oder ist sie im Gegenteil eine ununterbrochen fortschreitende, wildbunte Prozession, die spiralförmig auf schiefer Ebene, unter Spiel und Tanz, einer Art Ausguss zuwandert; darüber schwebend ein mittelalterlicher Tod mit siegreichem Banner? Wie viele Steine sind gewälzt und aufgerichtet worden, deren Anhäufungen wir noch heute bestaunen, und wohin ist wohl das Wehklagen derer verhallt, die sie aufeinander schichteten zu Kirchen, Burgen und

Reichshauptstädten? Kann die Geschichte ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen?

Sind uns die historischen Kriege wirklich mehr als nur wesenlose Daten, Kalendererscheinungen, Eintragungen auf Landkarten, in denen gewundene und gezackte Grenzlinien immer neu gezogen und behauptet wurden?

Wie konkretisiert Geschichte sich? Doch wohl nur durch uns, die wir sie erinnern. Aber unser Erinnern folgt unserer Bereitschaft und unsere Bereitschaft unseren vitalen Interessen. Wir interpretieren Geschichte, bündeln sie zu Mythen und Sagen, selektieren und verdammen sie zu ewigem Vergessen oder zur Unsterblichkeit, als wären wir zu spät geborene Götter.

Natürlich haben wir, eine Zeitlang wenigstens, das Materialisierte als unabweisbaren Anhaltspunkt. Die Festung, den Dom. Aber auch bemalte Leinwände und Holztafeln, Noten und Bücher, Geburtsregister und Grabsteine, Bibliotheken, Instrumente, Möbel und Waffen.

Sie scheinen zu uns zu sprechen. Aber sind nicht wir es, die sie zum Leben erwecken wie Bauchredner ihre Puppen? Wir betrachten in den Museen umhegte, kostbare, in ihrem Firnis über Jahrhunderte sich verdunkelnde, aufgesprengte und mit überschminkten Narben übersäte Zeugnisse mit ungeschicktem Interesse oder geübter Kennerschaft, aber können wir das Bildnis einer Madonna überhaupt verstehen, wenn wir nicht wissen, ob der Maler hungerte oder satt war?

Und dennoch öffnet uns, wenn überhaupt irgendjemand oder irgendetwas dazu im Stande ist, die Kunst ein Fenster in die Zeit. Beispielsweise Vermeers 1660 gemaltes Bild einer Dienstmagd in der Küche: Versunken in ihre Tätigkeit sehen wir bekanntlich eine junge Frau Milch aus einem Krug in eine Schale gießen. Jedes Detail ist von fotografischer Genauigkeit und stofflicher Materialität und scheint doch zugleich nur aus Licht zu bestehen. Eine kurz aufleuchtende Sekunde Alltäglichkeit ist in ihrer flüchtigen Schönheit unsterblich gemacht worden. Der dünne Milchstrahl fließt und fließt doch nicht, der Krug leert sich und bleibt doch immer voll. Die Zeit ist in Lebendigkeit angehalten wie man den Atem anhält.

Im Museum wird es vor diesem kleinen Rahmen still. Die Stille teilen sich das Bild und seine Betrachter, und Vermeer lässt uns hoffen, dass der Rest der Welt, also alles um diesen 45 cm hohen und 41 cm breiten Ausschnitt herum, ebenfalls noch existiert, irgendwo in der Obhut eines Gottes – oder göttlichen Malers wenigstens.

Wenn die Geschichte, oder genauer, wenn das Vergangene aber – entgegen dieser naiven Mutmaßungen – in Wahrheit doch wesenlos ist und nur in unserer kollektiven Nacherzählung existiert, also in sterbliche Aminosäuren gebettet ist, sind dann nicht alle Ereignisse und Epochen in ein gemeinsames und gleichzeitiges Nichts komprimiert, das nur durch unsere Bewertung plastische Gestalt, scheinbar räumliche und zeitliche Ausmessung erhält? Ist Geschichte nur eine Idee? Eine Interpretation? Und Geschichtsschreibung letztlich das Werk von Dichtern, das dem Ziel dient, ihr einen Sinn zu implizieren? Ähnlich wie wir es mit unserem eigenen individuellen Leben halten, das wir als Entwicklung betrachten wollen, also als fortschreitenden Prozess von außen nach innen, hin zu dem Eigentlichen unserer Existenz? Würden wir ewig leben, wie erschiene uns das Mittelalter in unserer persönlichen Erinnerung? Als eine Art gotteswahnsinnige Pubertät?

Und wie die Mitte des 19. Jahrhunderts?

Als die prosperierende Zeit unserer ersten Firmengründung? Der Kolonialismus als grausame Bubentat, deren Früchte wir zwar genießen, deren Schuld wir aber nicht mehr zu sühnen brauchen, einfach weil wir damals noch nicht strafmündig waren? Und hörte mit dem Holocaust nicht diese Idee von Entwicklung überhaupt auf? Würden wir – viele tausende Jahre alt, doch ewig jung – danach noch immer berechtigt sein, eine Entwicklung hin zu unserer Selbstvollendung zu denken, oder diese Vorstellung angesichts Millionen Ermordeter verwerfen müssen und mit Shakespeare sagen: „Life is a tale, told by an idiot, full of sound and fury signifying: nothing!“

Geschichte ist uns eine von fremder Hand dargebotene Chimäre.

Lehrer haben uns davon erzählt, aber die großen historischen Persönlichkeiten sind uns in unserer Jugend dürre Gespenster und die helle Gegenwart ist wunderbar herrschsüchtig.

Erst älter geworden wenden wir uns zurück und starren angestrengt in die von allen Seiten näher rückende Dunkelheit, um ihr eine Kontur abzugewinnen, einen schimmernden Reflex auf den Umrissen des Gewesenen und des Kommenden. Wo sind wir? Wer sind wir? Wer waren wir? Wer werden wir sein?

In der Seefahrt gibt es eine Navigationsmethode, die als Kreuzpeilung bekannt ist und die nicht einem abzusteckenden Kurs ins Unbekannte gilt, sondern nur der Positionsbestimmung, wobei dies „nur“ eine absurde Untertreibung vorstellt, denn es bedingt alles Folgende. Zur Kreuzpeilung braucht es allerdings zwei Standlinien, die nur von fest stehenden Landmarken aus gezogen werden können und an deren Schnittpunkt wir uns befinden. Die Linien sind aus der Perspektive des Navigierenden zu ziehen, er bestimmt die Winkel der sich über ihm kreuzenden Bahnen. Aber nicht einmal mit diesen festen Marken können wir operieren. Wir müssen sie erfinden.

Wir ziehen eine Linie hin zu einem vage begriffenen geschichtlichen Ereignis und eine andere zu einem zukünftigen Ziel und wähnen uns in diesem Dreiecksverhältnis am Schnittpunkt.

Gewiss aber befinden wir uns, wie alle, die vor uns waren und alle, die nach uns kommen, unter der Tyrannei des immer andauernden und blinden JETZT. Dieses Immerjetzt strecken wir zu einer Zeitspanne, die man später eine Epoche nennen wird und richten uns darin ein.

So wie wir der Geschichte Sinn zu geben versuchen, um von ihr Sinn zu erfahren, so wie wir eine Persönlichkeit ausbilden, um der inneren und äußeren Welt zu begegnen, so geben wir zu diesem Zweck auch einem bestimmten Raum Vorrang über alle anderen möglichen Räume und nennen ihn Heimat.

Heimat ist der seltsame Versuch, das Andere zu erfassen, indem man es exkludiert.

Sie ist im besten Fall die Abgrenzung, ohne die keine sinnvolle Wahrnehmung möglich ist. Sie ist eine Abbreviatur, in der die Welt in der Nussschale begriffen werden kann, bevor sie uns ergreift. Das Wort Heimat ist in Verruf geraten, aber ihre Wirksamkeit macht sie faktisch. Die

Heimat ist das Haus der Eltern, die Landschaft, die Schule, die Freunde, die Sprache, unsere Toten und – ihre Geschichte. Es ist der Ort, den wir gestalten und der uns gestaltet hat. Treten wir über die Schwelle der Heimat hinaus, an die wir uns klammern und von der wir uns abstoßen, kümmert das die Welt wenig. Tritt aber die Welt zu uns ein, ängstigt sie uns meist. 1816 war ein Jahr solcher Heimsuchungen:

Im April 1815 brach auf der indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan Tambora mit einer gewaltigen Explosion aus. Nie zuvor war eine solche Eruption dokumentiert worden. Der Ausbruch des Tambora entsprach der 170.000-fachen Zerstörungskraft der Atombombe von Hiroshima, die Detonationen waren im 2.500 Kilometer entfernten Sumatra zu hören und die atmosphärischen Druckwellen wurden noch 15.000 Kilometer entfernt registriert. Keiner der 12.000 Einwohner Sumbawas überlebte. Ein ungeheurer Staubnebel aus Asche und Schwefelsäure-Aerosolen breitete sich in der Atmosphäre aus und ließ weltweit die Temperatur um durchschnittlich drei Grad sinken. Chaotische Wetterverhältnisse, Missernten und Hungersnöte, vor allem in Nordamerika und Europa, waren die Folge.

Das Jahr Achzehnhundertunderfroren

Das Jahr 1816 ging als das Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein. An den Folgen des Ausbruches starben mindestens 70.000 Menschen in Amerika und in Europa. Diese gewaltige Explosion, die uns wie ein beleidigend sinnloses, aber furchtbar triumphierendes Ausrufezeichen erscheinen mag, das die Natur hinter das Dröhnen des Kanonendonners der napoleonischen Kriege setzte, hatte vielfältigste und tiefgreifende Folgen auf die Weltgeschichte: nicht nur augenfällige wie Massenmigrationen, Aufruhr, soziale Verwerfungen, sondern auch subtilste:

Die spektakulären Sonnenauf- und -untergänge des Biedermeiers in ihren unnatürlichen Orange- und Rottönen, die Maler wie Caspar David Friedrich oder William Turner auf die Leinwand brachten und die das Seelenklima einer Generation mitprägten, sind Ergebnis der aus dem Vulkan geschleuderten Feinstaubpartikel.

Erschaudernd vor der farbenprächtigen Allgewalt der Natur zog sich der von der Aufklärung zur Mündigkeit verurteilte, von der französischen Revolution ins Rampenlicht der Herrschaft gezerrte, von Napoleons Gewalttaten zermürbte und von Metternich misstrauisch beäugte und gegängelte Bürger ins Private zurück. Seinen Herrgott hatte er ins Pfandhaus der Vernunft gebracht und suchte verschämt, ihn wieder auszulösen. Die Spätromantik betrauert seinen Verlust und setzt dem kommenden Rauch der Fabrikschlote noch einmal den zauberhaften Glast der verlorengehenden Natur entgegen.

In London regnet es in diesem Sommer 1816, der kein Sommer ist, ausdauernd. Gewitter von nie gewesener Heftigkeit und Dramatik erschüttern den englischen Himmel und das englische Gemüt.

Mary Godwin, ihr zukünftiger Ehemann Percy Shelley, Lord Byron und dessen Arzt John Polidori fliehen vor dem Klima an den Genfer See. Doch auch dort sind die Auswirkungen des Tambora spürbar. Das Wetter hält die Reisenden im Haus und es entstehen zwei literarische Gestalten von ikonographischer Wirkungsmacht: Mary Shelley schreibt ihren „Frankenstein“,

John Polidori den Roman „Der Vampir“. Shelley zieht eine prophetische Verbindung zwischen galvanischer Elektrizität, die bis dato nur vor staunendem Publikum die Schenkel toter Frösche zucken ließ, hin zum Sündenfall eines Prometheus der Neuzeit. Polidori steigt tief in die Seele seiner Leser hinab und schreckt sie mit dem Archetypus des Wiedergängers und Blutsaugers, dem nur die entmachtete Kirche Einhalt gebieten könnte. Beide literarischen Fantasiegebilde erahnen geheime Unter- oder Gegenströmungen ihrer Zeit, auf verstörend unheimliche Weise, erscheinen aber gegenüber der Wirklichkeit geradezu rational: Der Tugendterror Robespierres hatte die vor begeisterter Vernunftgläubigkeit glühenden Ideale der Revolution in ein Blutbad überführt, das an düsterer Alptraumhaftigkeit den Visionen Goyas in nichts nachsteht.

Nicht minder hatte der ehemalige General der Revolution, Bonaparte, durch seine Selbstkrönung zum Kaiser und durch die sinnlosen Opfer seiner Kriege - man spricht von 3.500.000 - allen Idealen der Aufklärung, gleichgültig mit welcher Absicht, zuwider gehandelt.

Es triumphiert die Restauration.

Wie aber muss diese grauenhafte Ironie den kritischen Zeitgenossen erschienen sein? Als sinnvolle Entwicklung gewiss nicht.

Länder werden nun getauscht wie im Kartenspiel. Österreich erhält die Lombardei und Venetien. Es tritt Belgien an die Niederlande ab und überlässt den Breisgau Baden und Württemberg. Es erhält zurück: Tirol, Vorarlberg, Kärnten, Krain, Triest, Galizien, das Innviertel und - Salzburg! Grenzen und Nationalitäten sind vorläufig und der Gier der Sieger unterworfen, die revolutionären Errungenschaften werden zurückgenommen, die Monarchien neu gestärkt, die Freiheit beschnitten. Die Uhren Europas werden auf die vornapoleonische Zeit zurückgestellt, der Tyrann selbst sitzt auf der Insel St. Helena und trägt den Wellen seinen Traum von Europa vor. Sein Name ist zum Synonym eines zu einem bengalischen Trugblitz verkommenen Meteors geworden, und Metternich nennt man den Kutscher Europas.

Gerechterweise muss hinzugefügt werden, dass Historiker die Politik Metternichs inzwischen vielfach als Garantie für die langen Friedensjahre bewerten und die Restauration nicht als Rückschritt in die alte Ordnung, sondern als beispiellose und durchaus liberale Neuordnung begreifen. Dies mag realpolitisch betrachtet vernünftig sein, dass aber die Hoffnung auf eine freiheitliche bürgerliche Gesellschaft zerbrochen war, steht wohl außer Frage.

Das geplünderte Salzburg jedenfalls liegt am Boden.

An Invasionskosten hatte das besetzte Land die enorme Summe von 15 Millionen Livree an die Franzosen zu entrichten. Der Rupertigau mit 40.000 Einwohnern ist an Bayern gefallen. Das Erzbistum existiert nicht mehr, der Erzbischof Colloredo hatte 1800 Salzburg verlassen müssen, im Jahre 1803 wird er als Fürsterzbischof abgesetzt. Salzburg ist endgültig säkularisiert und wird von Linz aus regiert.

Fünfmal hatte es von 1800 bis 1816 den Besitzer gewechselt. Wie verlässlich mögen den Zeitgenossen Grenzen und Nationalitätszugehörigkeiten erschienen sein?

Tiefe Armut, der Verlust vieler junger Männer in den fremden, aufgezwungenen Kriegen, Entwurzelung und Perspektivlosigkeit führten zu einer kollektiven wirtschaftlichen und seelischen Depression in Stadt und Land, von der sich Salzburg erst Jahrzehnte später erholt.

Die Welt aber dreht sich weiter. Ich lese in der Daten-Enzyklopädie: 1816 bombardieren die Engländer Algier, 1816 überquert das erste Dampfschiff namens „Elise“ den Ärmelkanal, 1816 wird die Österreichische Nationalbank gegründet, 1816 wird der Stirlingmotor erfunden, 1816 wird der „Barbier von Sevilla“ uraufgeführt und 1816 läuft die Fregatte „Meduse“ vor Westafrika auf Grund.

Besonders dieses Ereignis ist symbolhaft für die Übermittlung von geschichtlichen Ereignissen: England erstattete 1816 den Franzosen eine ihrer Kolonien, den Senegal, zurück. Frankreich entsandte darauf vier Fregatten dorthin, mit Soldaten, Forschern und Beamten an Bord. Eines der Schiffe ist die „Meduse“. Auf ihr befindet sich auch der zukünftige Gouverneur des Senegal, ein treuer und mit dieser Aufgabe belohnter Royalist, ebenso wie der Kapitän des Schiffes, der auf Grund seiner Gesinnungstreue im Exil und nicht durch seemännische Erfahrung Karriere gemacht hatte. Dem Kommando nicht gewachsen navigiert er das Schiff auf ein Riff und befiehlt daraufhin den Bau eines Floßes von beeindruckenden Ausmaßen, da es zu wenig Boote für die Menschen an Bord gibt. Etwa 50 Passagiere, Soldaten und Seeleute werden auf dieses Ungetüm verbracht, die Rettungsboote sollen es ziehen.

Da es den Besatzungen der Boote unmöglich ist, mit dieser Last selbst zu überleben, kappen sie die Seile, das Floß treibt auf die hohe See. Unzureichend mit Proviant versorgt, bricht nach einiger Zeit Kannibalismus aus. Nur 15 Menschen können gerettet werden, unter ihnen der zukünftige Gouverneur des Senegal. 1819 zeigt der Maler Théodore Géricault seine heroische Version der Katastrophe im Pariser Salon und sorgt zunächst für einen Skandal, denn man erinnert sich ungerne an die Vorfälle. Immerhin trägt das Floß von Géricault am Mast ein Segel, während es sich in der Wirklichkeit um zum Dörren aufgehängte Streifen von Menschenfleisch gehandelt hatte. Unter der Hand wandelte sich die Bedeutung des Werkes. War es zunächst noch als Kritik an der Unfähigkeit der alten und wieder neuen royalistischen Eliten verstanden worden, wurde es in der Republik zur nationalen Ikone, zu der es ja auch alle Zutaten bereithält:

Kampf gegen eine feindliche Natur, tapferer Überlebenswille der Kolonialisten, Humanität und Heldenmut, realistisch gemalt, aber in so völliger Verzerrung der Realität, dass es zu einem Teil der französischen kulturellen Identität werden konnte. Es gehört, wie man so sagt, zu „ihrer Geschichte“, bzw. es hat Geschichte geschrieben.

Und der Senegal? 1960, vor 56 Jahren, erhielt er seine Unabhängigkeit nach 500 Jahren der Ausplünderung zurück.

Ist auch das Europäische Geschichte? Oder wird sie es erst noch?

„Das Zukünftige nimmt ab, das Vergangene wächst an, bis die Zukunft verbraucht und das Ganze vergangen ist.“ Sagt Augustinus. Einmal wird also die Vergangenheit die Gegenwart

verdrängt haben und die Zukunft aufbrauchen wie eine verbliebene Notration. Auch wenn Augustinus nicht die Geschichte, sondern die Zeit gemeint hat, drängt uns sein Satz das Bild einer von Taten und Wirkungen verstellten Zukunft auf. Wie viel Gestaltungsraum uns wohl verblieben ist?

Sie werden vielleicht aus solcherlei Fragen schließen, dass mich eine gewisse – an diesem Jubeltage nicht statthafte – Skepsis beherrscht und ich gebe es zu: Insbesondere in Anbetracht des 20. Jahrhunderts habe ich meine Zweifel, ob man die Entwicklung der letzten 200 Jahre später einmal als Progress begreifen wird. Ich würde eher denken, dass die Geschichte sich mit furioser Dynamik blind fortgeschrieben hat. Und ich fürchte, dass wir Heutigen nur wenig hellsehender geworden sind. Oft erscheint mir daher, dass wir unserer Blindheit Rechnung tragen sollten. Ein hilfloser Gedanke vielleicht. Von Politikern verlangen wir richtungsweisendes, effizientes, ethisch wertvolles und vor allem schnelles Handeln. Aber könnte nicht auch Innehalten eine Tugend sein?

Manchmal wäre es schön, inmitten all der Meinungsgewissheiten und des unerschrockenen Gestaltungsdranges ein: „Ich weiß es nicht.“ zu hören.

Aber vielleicht ist dies nur ein neobiedermeierlicher Reflex, die Befürchtung, dass unsere Lösungen von heute unsere Probleme von morgen sind. Aber nun wirklich genug mit dem zaudernden Pessimismus und zurück zum Anlass dieser Rede – der meine Skepsis ja Lügen straft:

Salzburg gehört zu Österreich, wider alle historische Wahrscheinlichkeit ist es dabei geblieben, zweihundert Jahre lang! – Wenn man die Jahre zwischen 1938 und 1945 überspringen möchte. Vom Nationalismus geheilt, fühlen wir uns nicht nur unserem Heimatland, sondern zugleich auch Europa zugehörig. Und speziell als Mitteleuropäer gehören wir Heutigen wohl zu den privilegiertesten Menschen, die jemals auf diesem Planeten gelebt haben.

Wir genießen einen noch vor zweihundert Jahren unvorstellbaren allgemeinen Wohlstand, wir haben seit Jahrzehnten keinen Krieg geführt, wir werden gesünder älter als alle Generationen vor uns. Noch dazu leben wir in einer der schönsten Landschaften der Welt, umgeben von einzigartiger Architektur, Museen, Theatern, Konzertsälen und Bibliotheken. Wir haben Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und Ausbildungsplätze wie kaum ein anderes Staatsgebilde auf dieser Erde, aber wir spüren, dass wir weniger stolz als dankbar sein müssen, denn, ob dieses junge und zerbrechliche Glück allein unser Verdienst ist, ist fraglich, und, ob wir es guten Gewissens in Zukunft noch genießen dürfen, auch.

Dunkel schwant uns, dass wir unser Leben in einer Atempause führen durften.

Die in den neunziger Jahren populäre These des Politikwissenschaftlers Francis Fukoyama vom Ende der Geschichte lässt sich jedenfalls kaum länger aufrechterhalten. Fukoyama vertrat die Auffassung, dass es zu einer Auflösung aller weltpolitischen Widersprüche durch den Zusammenbruch der kommunistischen Sowjetunion käme, und wir in absehbarer Zeit den von Hegel definierten Zustand der „Synthese“ erreichen würden, in dem Demokratie und freie soziale Marktwirtschaft sich überall auf der Welt durchsetzten, und somit der Anlass für Konflikte oder Thesen und Antithesen von historischen Dimensionen verschwinden würden.

Wir alle wissen aber, dass wir u.a. durch das globale Gefälle zwischen Arm und Reich, durch religiösen Fanatismus, Klimawandel und Raubbau an den Ressourcen unserer Erde von der Geschichte wenigstens wieder erfasst wurden und dass wir sie, trotz aller Zweifel an unseren Fähigkeiten, gestalten müssen – und werden, ob wir wollen oder nicht.

Wir alle, die wir so einzigartig begünstigt in Europa leben dürfen, hätten die besten Voraussetzungen dafür und werden sie hoffentlich umsichtig und verantwortlich nutzen. Ob wir es getan haben, werden wir selbst allerdings nicht beurteilen können. Die Geschichte wird es weisen.

Aber selbstverständlich bin ich weder dazu eingeladen noch dazu in der Lage, eine Vorausschau auf die Salzburger, die Österreichische oder gar die Europäische Geschichte vorzunehmen, sondern stehe hier vor allem als Vertreter der Salzburger Festspiele, die nun fast 100 Jahre mit der Geschichte Salzburgs eng verbunden sind. Diese so lange Existenz der Festspiele dokumentiert eindrucksvoll das Bekenntnis der Salzburger in Stadt und Land zu einer geistigen Welt, die die übermächtige Faktizität der Gegenwart einer „idealen“ Sphäre unterordnet.

Dieses Bekenntnis ist umso eindrucksvoller, als es sich um eine Sphäre handelt, die nicht durchwegs heiter und optimistisch ist, sondern ihrem innersten Wesen nach zweifelnd

raunt.

Im Theater und in der Oper erträumt sich der Mensch.

Er verherrlicht und verdammt sich, gibt sich Rechenschaft über sein Tun und warnt seit der Antike vor seiner Selbstermächtigung gegenüber den Göttern.

Zugleich aber feiert die Kunst durch ihre bloße Existenz paradoxerweise das fürchterliche Wesen, das sie erdacht hat, und gibt uns Anlass zu glauben, dass sie die wertvollste Äußerung unserer Spezies darstellt. Nicht die stolzen Manifestationen von Staat, Verwaltung, Militär, Industrie, Wissenschaft und Wirtschaft, sondern der flüchtige Ausdruck der Verzweiflung und Freude in und an unserer Existenz, in Musik, Gebärde und Stimme übertrifft an Kostbarkeit alle anderen Güter. Und doch ist die Kunst zu nichts nutze. Jedenfalls ist ihr Nutzen nicht in Geld fassbar.

Im Gegenteil: In der wirtschaftlichen Unvernunft liegt ein Teil des Zaubers einer Theater-, Opern- und Konzertaufführung. Die Umwidmung des Geldes vom Uneigentlichen zum Eigentlichen, vom Zweck zum Mittel, die Großzügigkeit und ja, die Verschwendung, sind wesentliche Bestandteile eines Unterfangens, wie die Festspiele es sind, denn sie verdanken sich dem Glauben, dass das Wichtigste, das Wesentliche sich dort verborgen hält, wo es dem Tagesinteresse, der Wirtschaftlichkeit, der Berechenbarkeit, der Logik, der Vernunft, der Analyse, ja der Wahrscheinlichkeit widerspricht.

Novalis schrieb: „Wie der wesenlose Regenbogen, so spannt sich unsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz unseres Daseins.“ Ich stelle mir vor, dass die Kunst gewissermaßen die

Seele der Geschichte ist und sich sinngebend über die schon Gestürzten und uns – die unaufhaltsam noch Stürzenden – ausspannt. Das wundersame Salzburg ist in diesem Sinne ein wahrhaft beseelter Ort, der viel seiner Einmaligkeit und Besonderheit seiner Kultur, und damit auch seinen Festspielen, verdankt. Umgekehrt gilt dies freilich auch. Daher will ich mich heute für das Bekenntnis der Salzburger zu ihren Festspielen bedanken.

Noch zwei Sätze in eigener Sache: Immer wieder hat mein Leben mich nach Salzburg und von Salzburg wieder zurück in die Welt geführt. Ich war als Student hier auf dem Mozarteum und habe danach in vielen Städten gespielt und inszeniert, bis ich wieder in Salzburg auftreten durfte, in der Felsenreitschule, im Landestheater, auf dem Domplatz, und die Atmosphäre in Salzburg bei den Festspielen gehört zu den einzigartigsten Erlebnissen meines Berufslebens.

Last not least habe ich hier viele gute, ja die besten Freunde getroffen. Fast 40 Jahre dauert diese schöne Verbindung schon zwischen mir und dieser für mich so bedeutsamen Stadt, deshalb darf ich sagen, ich bin Salzburger Lokalpatriot.

Als solcher gratuliere ich, jenseits all meiner skeptischen Fragen, den Festspielen, Ihnen und Österreich zu unserer Zugehörigkeit zu Salzburg.

Bild: dpk-krie
Zum Bericht Der Menschen gedenken, nicht der Jahreszahlen

 

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