Das Kettenkarussell auf dem Kultur-Kirtag oder: Im Legoland des gehobenen Geistes
IM WORTLAUT / RENÉ-MARCIC-PREIS / REDE DER PREISTRÄGER
12/05/14 Wenn es den DrehPunktKultur nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. - So heißt es sinngemäß in der Begründung der Jury. Das Schmunzeln, als wir das gelesen haben, ist rasch großer Nachdenklichkeit gewichen. Muss es kleine Medien wie den DrehPunktKultur tatsächlich geben? Was vermitteln wir wem, und wozu?
Von Reinhard Kriechbaum
und Heidemarie Klabacher
Wir Kulturjournalisten – das gilt für alle Kolleginnen und Kollegen großer wie kleiner Medien, von Print über Funk bis zu den „neuen“ Medien – sind Dauergäste auf einem kulturellen Jahrmarkt. Wir hetzen von Bude zu Bude, sind Mitfahrer in einem sich auf Hochtouren drehenden Karussell, das nie zum Stillstand kommt. Nicht immer ist man auf der Hochschaubahn unterwegs, die Überblick über das bunte Treiben ermöglicht. Gelegentlich fühlt man sich etwas allein in der Geisterbahn. Und gar nicht selten tastet man im Spiegelkabinett nach dem Weg.
In der Salzburger Kultur – und nicht nur hier - ist fast das ganze Jahr über Ruperti-Kirtag. Muss, soll das so sein?
Salzburg noch vor 30, 35 Jahren, in den heraufdämmernden achtziger Jahren: Was für ein beschaulicher Radius der Kultur! Mit der Schwarzstraße (also Mozarteum und Landestheater) und der Hofstallgasse (den Festspielhäusern) waren die Ost- und die Westgrenze gezogen. Im Süden war das Künstlerhaus äußerster Punkt kulturellen Interesses. Und wo verlief die Nordgrenze? Ja freilich, durch den Keller der Elisabethkirche, wo die Elisabethbühne schon geraume Zeit im Pulsschlag neuer Theaterregie tickte.
Ein mehr als überschaubares Terrain jedenfalls. Zu Fuß leicht zu durchmessen – und von kultureller Kirtags-Stimmung nicht die Spur. Die Nachkriegsgeneration hatte noch nicht den Kopf frei für solche Flausen. Die Geldbörse war noch nicht voll genug. Man war mit dem wirtschaftlichen Vorwärtskommen beschäftigt, die Kultur war Feierabend-Regeneration.
Dann bekamen plötzlich die Achtundsechziger das Sagen. Die merkantile Strebsamkeit der Altvorderen war ihnen ein Gräuel. Zuerst haben sie sich für die Weltpolitik erwärmt, je nach ideologischem Hintergrund für Ho Chi Minh oder für Erzbischof Romero. Dann fand man mit dem Engagement für die Umwelt oder für die Erhaltung der Altstadt näher Liegendes. Wir sind jetzt in den Siebzigern und die Grünbewegung entsteht.
Erst Anfang der achtziger Jahre begann der neue Geist auf die Kultur überzugreifen. Es begann zu brodeln. Im „Gegenlicht“ in der Grießgasse regte sich aufsässiger Geist. Die Rainbergler begannen vernehmlich zu rumoren. Sie erinnerten daran, dass neben der gutbürgerlichen Kultur und den Festspielen eine riesige Bau- - besser gesagt, eine Leerstelle – klaffte: Jugendkultur und studentische Kultur gab’s nur in rudimentären Ansätzen.
Innerhalb einer Dekade sind dann in Folge die heutigen Kulturzentren aus dem Boden geschossen. Die ARGEkultur hat im Nonntal ihr Domizil gefunden. Die „Szene der Jugend“ (so hieß sie damals) bedeutete ein weiteres Stück hin zur kulturellen Demokratie. Das Toihaus wurde gegründet. Aus der Amateurspielgruppe der Apple Stars ward das Kleine Theater. Bald gab es das Literaturhaus, das Jazzit, das Rockhouse - und so weiter und so fort.
Diese Aufbruchsstimmung in der Szene ging Hand in Hand mit einem neuen Feierabendverhalten. Der nun endgültig abgesicherte Wohlstand führte zu einem neuen Stellenwert, zu völlig veränderten Optionen für die Freizeit. Arbeit war plötzlich nicht mehr Lebensinhalt, sondern die notwendige Betätigung vor der Freizeitgestaltung. Nicht nur die Sport-Offerte sind damals explodiert: Die achtziger und neunziger Jahre waren Boom-Zeiten schlechthin für die Kultur. Das Angebot wurde potenziert.
Grob geschätzt hat sich in drei Jahrzehnten die Zahl kultureller Veranstaltungen zumindest verzehnfacht. Auch die Publikumszahlen sind in die Höhe geschnellt – nicht ganz haben sie mit dem Angebot Schritt halten können, aber immerhin: Viel mehr Menschen kosten heutzutage vom kulturellen Riesenkuchen.
Ende des 20. Jahrhunderts ist Kultur zu einer flächendeckenden Sache geworden und zum ersten Mal in der neueren Geschichte ist Kultur nicht bestimmten Schichten vorbehalten, sondern ist tatsächlich für jedermann erreichbar und wird auch nachgefragt.
Entsprechend verändert hat sich das Selbstverständnis der Kulturschaffenden: Eine Armada von Menschen, die sich bis dahin neben einem Brotberuf quasi als Feierabend-Künstler betätigte, hat festen Tritt gefasst in der Szene. Hat die Kultur zum schöpferischen Lebensinhalt erklärt. Das war, soziologisch betrachtet, ein Umbruch, der in seiner Tragweite viel zu selten beschrieben wird: Kulturschaffende treten heutzutage mit einem völlig anderen Selbstbewusstsein auf - gegenüber ihrem Publikum, gegenüber uns Kulturjournalisten. Und natürlich auch gegenüber Geldgebern. Selbstverständlich erwarten sie öffentliche Gelder.
„Viele sind berufen, wenige sind auserwählt“, heißt es in der Bibel bei Matthäus. Künstler-Sein ist heute nichts Exklusives mehr. Wir haben es längst nicht mehr nur mit Auserwählten zu tun, sondern mit einer Phalanx von solchen, die sich berufen fühlen. Die Berufenen heischen genau so nach Subventionen wie die Auserwählten.
Die Kulturschaffenden suchen auch längst nicht mehr die Einbindung in bestehende Strukturen. Wäre es noch vor einem Vierteljahrhundert vorstellbar gewesen, dass Heerscharen von Profi-Schauspielern mit freien Theaterproduktionen nicht nur ein Publikum, sondern auch eine Lebensgrundlage finden?
Eine negative Folge: Das Prekariat ist im Kulturbereich zum Normalzustand geworden.
Kein herkömmliches Printmedium, auch nicht Radio und Fernsehen, hat mit dieser Kultur-Explosion in Angebot und Konsum auch nur im Ansatz Schritt halten können. Man spricht von „Freizeitkultur“. Man spricht von „Esskultur“. Kulturtouristen fahren weltweit herum. „Städtetourismus“ meint längst nicht mehr nur Einkaufen. Kultur-Wanderer und Kultur-Radfahrer lassen die Muskeln spielen. Die Kultur umzingelt den Menschen. Umzingelt ihn etwa auch in Form von Kunst im öffentlichen Raum. Es gibt kein Entrinnen.
Mit weit offenen Augen - weit offen aus Neugier, aber auch aus Erstaunen und Verblüffung, gelegentlich auch mit Schrecken – haben wir Kulturjournalisten das Entstehen dieses kulturellen Vergnügungsparks beobachtet. Rund um die Uhr und fast das ganze Jahr über ist der Kultur-Themenpark geöffnet: ein Legoland des gehobenen Geistes.
Plötzlich war es den Kulturredaktionen nicht mehr möglich, auch nur das Wesentliche im Blick zu behalten. Wo unsereiner seither auch hinein greift – er hat immer nur einzelne Fäden, bestenfalls einen Zipfel vom Ganzen in der Hand. Jeder in eine Kulturveranstaltung investierte Abend bedeutet: drei oder vier Optionen auszulassen.
Was in die Breite geht, geht selten in die Tiefe. Und was in die Tiefe geht, tut sich schwer im Kultur-Rummel. Das ist die Schattseite der im Grunde erfreulichen Entwicklung, wie wir sie in der Kultur in den vergangenen drei Jahrzehnten erlebt haben.
Da kommen wir Kultur-Verbreiter ins Spiel. Wir Transporteure von Nachrichten, Berichten und Kritiken. Wir Appetitmacher und Vermittler. Weniger denn je sehen wir Kulturjournalisten uns nämlich als Kunstrichter. Da sprechen wir DrehPunkt’ler wohl auch im Sinn unserer Kolleginnen und Kollegen von Print und Funk.
Kulturjournalisten heute sind keine Halbgötter, die auf einer Wolke sitzen und Blitze herab schleudern auf arme Musiker, auf Pinselschwinger und Buchstabenordner. Wir sitzen nicht als Besserwisser im Konzert oder im Theater. Wir wollen unsere Leserinnen und Leser, unsere Hörerinnen und Hörer nicht bevormunden. Wir sind Publikum. Wir sind Leute, die mit Kreti und Pleti im Kettenkarussell mitfahren. Wir wollen überrascht und unterhalten sein. Wir ärgern uns, wie andere Besucher auch, wenn wir es mit Schießbudenfiguren zu tun bekommen, die unsere Sinne nicht herausfordern.
Gerade angesichts der kulturellen Überfülle rundum ist es unsere ureigene Aufgabe, unserer lesenden, hörenden, schauenden Kundschaft ein wenig Orientierungshilfe zu geben. Das ist schwierig genug. Vieles kann im Gedränge zwischen den Jahrmarktsbuden nicht so wahrgenommen werden, wie wir es eigentlich wollten.
Da hat sich im Berufsfeld vieles geändert. Die Fachkritik nimmt sich zurück zugunsten eher auratischer Beschreibungen. Doch nach wie vor gilt: Es muss beim Schreiben und Reden über die Kultur um die Scheidung der Geister gehen, um das Be-Schreiben und um das begründende Werten.
Es muss um den Diskurs gehen, um das Abwiegen unterschiedlicher Positionen. Und da nun landen wir endlich bei den Neuen Medien. Bei Social media, bei Web 2.0 oder wie die Dinge heißen: Menschen melden sich spontan zu Wort. Das Internet garantiert rasche Verbreitung, soziale Barrierefreiheit. Das gelobte Land?
Wie turbulent es auch zugeht auf dem Jahrmarkt: Die wertende Stimme will eingeordnet sein. Egal, ob ich Leserin und Leser oder „User“ bin: Es hilft mir überhaupt nicht, wenn ich die Menschen, die öffentlich Meinung absondern, nicht kenne. Wenn ich ihre Standpunkte nicht einordnen, ihre ideologischen und fachlichen Voraussetzungen nicht einschätzen kann. Der Kommentar-Blog hinter einem Beitrag, gefüllt mit Statements aus dem Bauch heraus, hilft nicht wirklich weiter. Das ist nach wie vor die Stärke vieler herkömmlicher Medien. Das ist auch die Stärke des DrehPunktKultur, der nun schon seit über zehn Jahren besteht: Der Leser und die Leserin sind im günstigen Fall vertraut mit den Autorinnen und Autoren. Sie können die jeweiligen Positionen einschätzen.
Und letztlich kann Kulturjournalismus ohnedies nur im Vergleich unterschiedlicher Medien bestehen. Das Wort Kritik kommt vom griechischen „krínein“ und heißt entscheiden, unterscheiden, trennen, urteilen. Die Kritik eines Karl Harb in den SN, der Hörfunkbericht einer Eva Halus aus dem ORF-Landesstudio, die Wahrnehmungen eines Florian Oberhummer in der SVZ – und eben das, was wir im DrehPunktKultur veröffentlichen: Da geht es nicht um Auflagenzahlen und auch nicht um Quoten. Da geht es vielmehr um die Anregung zum Diskutieren. Da geht es um unterschiedliche Perspektiven und Akzente, um differenzierte Meinungsbildung.
Dann, sehr geehrte Damen und Herren, geht es auch um die Sache und ihren intellektuellen Mehrwert. Und nur, wenn möglichst viele und möglichst unterschiedliche Medien diese Auseinandersetzung fördern, wenn die Medien ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anregen, sich mit journalistischer Sorgfalt und mit persönlichem Engagement der Kultur zu widmen – nur dann sind die Kultur und damit wir alle die Gewinner in diesem Spiel.