Vermessung der Welt – von Bramberg aus
IM WORTLAUT / FESTREDE
12/12/14 „Neue Karten, neue Modelle der Welt, die brauchen wir“, so der Schriftsteller Karl-Markus Gauß in seiner Festrede zur Verleihung der Kulturpreise des Landes am Donnerstag (11.12.) in der Salzburger Residenz. Der in der vom Landesmedienzentrum herausgegebenen Broschüre „Kunst & Kultur 2014) abgedruckte Text im Wortlaut.
Von Karl-Markus Gauß
Im weitläufigen Gebäude der Salzburger Universitätsbibliothek befindet sich ein Raum von verwunschener Schönheit, der heute nicht mehr als Ort der Lektüre und Forschung genutzt, sondern nur manchmal für Vorträge oder Festveranstaltungen geöffnet wird. Die Bibliotheksaula ist ein nicht allzu großer Raum, an dessen Längsseiten auf schweren dunklen Holzregalen rund 4500 historische Druckwerke aus der Zeit von Renaissance und Barock aufgestellt sind, und an dessen schmaler Stirnseite ein Globus von über zwei Metern Höhe steht. Dieser Globus ist das Lebenswerk von Josef Jakob Fürstaller, einem Schulmeister aus Bramberg, der ihn 1770, nachdem er in seinem kleinen Ort im Pinzgau viele Jahre dafür aufgewendet hatte, das Antlitz der Erde in seinen richtigen Proportionen zu zeichnen, nach Salzburg in die Residenz des Erzbischofs brachte.
Die Länder, Kontinente, Meere hat Fürstaller so gefasst, wie es dem gelehrten Wissen seiner Zeit entsprach, das er sich im abgelegenen Bramberg auf rätselhafte Weise anzueignen wusste; am genauesten war er natürlich über Salzburg, Österreich, Europa, das Christliche Abendland unterrichtet, selbst von Amerika und Asien waren ihm aber schon viele Details präzise bekannt, während Afrika auch in diesem Sinne noch ein dunkler Kontinent für ihn war. Es ist eine einzige, wunderliche Kleinigkeit, die seinen Globus von allen Globen, die damals und seither entstanden, unterscheidet: Der Globus des Josef Jakob Fürstaller ist bis heute der einzige geblieben, auf dem Bramberg eingezeichnet ist.
Das ist zum Lachen, aber keineswegs lächerlich. Wahrscheinlich wollte sich Fürstaller einen Scherz erlauben, wie er dem zusteht, der sein Werk nach Jahrzehnten der einsamen Arbeit endlich doch hinaus in die Welt ziehen lassen kann. Ich glaube aber, dass er damit noch etwas anderes sagen, ja, bezeugen wollte. Nämlich: Bramberg, das ist der Ort, von dem ich in die Welt geschaut und mir mein Bild von ihr gemacht, der Ort, an dem ich mein Modell der Welt erstellt habe. Die vermeintliche Naivität, mit der sich ein Hinterwäldler einen Platz anmaßt, der ihm gar nicht zusteht, ist in Wahrheit eine spielerische Form von Selbstreflexion: Selbstbewusst, also seiner Begabung und Verdienste, seiner lokalen Herkunft und geistigen Prägung bewusst, stellte Fürstaller zwischen dem Objekt seines Forschens und Gestaltens und sich selbst eine Beziehung her.
An Josef Jakob Fürstaller erinnern, heißt durchaus, über uns, die Gegenwart, die mediale Gesellschaft, die zeitgenössische Kunst, über das Verhältnis von kleiner und großer Welt, von Region und Globalisierung nachzudenken.
Gerade heute drohen wir zu vergessen, worüber sich der aufgeklärte Dorfschullehrer völlig im Klaren war: Erstens, dass die Welt groß und vielgestaltig ist und es verdient, von uns immer neu entdeckt, erkundet, gedeutet zu werden. Und zweitens, dass es immer ein bestimmter Ort ist, von dem aus wir die Welt betrachten und sie uns zu erklären versuchen, ein Ort, den wir nicht eng topographisch nur als Punkt auf der Landkarte fassen, sondern biographisch, sozial, politisch, ästhetisch vermittelt begreifen sollten.
Wer sich heute im Internet umtut, ist versucht, die virtuelle Welt für herrlich ortlos und damit gar für herrschaftsfrei zu halten: Das vermeintlich Ortlose ist wie ein Versprechen, dass die in den Weiten des Internet flottierenden Informationen, Nachrichten, Meinungen weder den billigen Interessen bestimmter Leute dienen noch von irgendwelchen Ideologien verformt werden. Als wäre, was wir im Internet erfahren, eine Art von schwebender, schwingender, geradezu anpassungsfähiger Wahrheit,
die sich wie von selbst erzeugt und ubiquitär ist, überall verfügbar und jedermann zugänglich, weder an einen realen Ort noch eine ideologische Positionen gebunden.
Fürstaller hingegen wusste, man könnte sagen: von der Ortshaftigkeit der Erkenntnis, er bot den Umriss der ganzen Welt – und markierte seinen eigenen besonderen Platz darin, als geographische Gegebenheit, aber auch als geistige Voraussetzung und soziale Realität. Jeder, der künstlerisch arbeitet, steht irgendwann, ob er es beabsichtigt oder überhaupt bemerkt hat oder nicht, vor dieser Herausforderung: zwischen der immer neu zu entdeckenden Welt und seinem Ich einen verborgenen, zerrissenen Zusammenhang zu suchen und im künstlerischen Entwurf gleichsam probeweise herzustellen. Es ist, um die Sache nicht ungebührlich auf die Kunst zu verengen, sogar ein Anspruch, der einem jeden gebührt, der sich dafür interessiert, was seine eigene Existenz ausmacht und mit der Epoche, der Gesellschaft, der Geschichte zu tun hat
Mit Fürstaller gefragt: Wie viel Welt ist in Bramberg und wie viel Bramberg in der Welt? So gefragt, könnte man nach zwei Richtungen vorschnell antworten und dabei verfehlen, was an Abgründigkeiten in der Frage liegt. Zum einen, wenn man glaubte, die sich permanent modernisierende Moderne habe nichts mit den Brambergs aller Weltregionen zu tun, die in ewig selbstzufriedener oder gar selbstverschuldeter Provinzialität vor sich hindösen, sodass sie nie und nimmer zu dem beitragen können, was an Neuem erfunden, ausprobiert, massentauglich produziert und bald wieder von Neuerem abgelöst wird. Und zum anderen wenn man umgekehrt meinte, immerhin in den Brambergs der Welt wäre diese noch in Ordnung, weil hier, in der vorgeblich für sich lebenden und in sich ruhenden Provinz noch als Einheit erlebt werden könne, was andernorts längst zerfallen ist.
Wer sich die Dinge so erklärt, hält jedenfalls am alten Gegensatz von Rand und Mitte, von Provinz und Metropole fest, auch wenn er ihn mit jeweils anderer Wertigkeit versieht. Es kauen ja beide am selben Knochen, der Verächter und der Verklärer der Provinz, der Herold der schnelllebigen metropolitanen Kultur und der Bußprediger, dem es vor dem Tempo der Großstadt, der schieren Menschenmenge, dem aufmarschierenden Fortschritt schaudert. Es kommt aber weder darauf an, die Provinz oder die Metropole zu verklären, noch darauf, die Provinz oder die Metropole zu verdammen, sondern – sie zu entdecken.
Sicher zählt die Entdeckerfreude, im Großen und Kleinen, im kühnen Entwurf einer Gegenwelt, aber auch in der geduldigen Arbeit am Material, zu den künstlerischen Antriebskräften. Der Erzähler Julien Green, der nach einem langen Leben ein Werk von geradezu monumentalen Ausmaßen hinterließ, hat als Grund dafür, warum er so viel und bis ins hohe Alter täglich geschrieben hat, einmal lapidar angegeben: „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke.“
Die Maler und Fotografen wiederum, mit denen ich über ihre Arbeiten sprach, haben mir oft davon berichtet, wie wichtig die gewissermaßen materialspezifische Neugier für sie ist, das Ausprobieren, was Farbe und Form hergeben, das Wissenwollen, wie eine wohl überlegte Komposition aussehen wird, wenn sie sich erst auf Papier, Leinwand oder in digitaler Form materialisiert hat. Selbst im vollendeten Werk ist der Charakter des Versuchs, dem es seine Entstehung verdankt, noch aufzuspüren. Wer die Welt für fertig, unveränderbar, widerspruchsfrei beschreibbar hält, macht sich nicht die Mühe, sich auf seine künstlerische Weise mit ihr auseinanderzusetzen, ihm würden reine Kontemplation, stille Anbetung, idiotische Zufriedenheit genügen.
Was mir das Vorhandene, Gegebene von sich verrät, indem ich es neu und anders betrachte, bis mir im Vertrauten etwas Unbekanntes aufscheint oder mich das Abweisende mit einem Mal altbekannt anschaut, darauf kommt es an. Dabei kann es einem passieren, dass man die Metropolen auf einmal in lauter Brambergs zerfallen sieht, und erkennt, wie sich ein Moloch von Stadt aus Aberhunderten Dörfern zusammensetzt und seine Zeitform eben nicht die digitale Allgegenwärtigkeit ist, sondern die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen; Dinge, die wir für längst abgelebt glaubten, wesen und wirken weiter, und die verschiedenen Schichten von Entwicklung schieben sich in ein- und derselben Stadt, Region, Gesellschaft ineinander. Umgekehrt kann man empört oder begeistert entdecken, mit wie viel Globalisierung noch die Orte hinter den sieben Wäldern ausgestattet sind, wie sehr noch die abgehängte Peripherie von dem durchtränkt ist, was in den Zentralen der Macht und des Fortschritts ersonnen und auf den Weg gebracht wurde.
Groß sind die Fortschritte, die die Kartographie, die Vermessung der Welt seit den Zeiten Fürstallers gemacht hat. Der argentinische Enzyklopäde Jorge Luis Borges hat einmal von einer riesigen und unübertrefflich genauen Landkarte geträumt, auf der alle Felsformationen und Täler, Wüsten und Seen, Städte und Landschaften so getreu erfasst sind, dass man die Weltkugel mit dieser Karte einpacken könnte und sie sich faltenlos über die Erdkruste legen, sich jeder Welle des Meeres anschmiegen würde. Dann würde sich also das Abbild mit der Realität decken, die Karte mit der Welt identisch werden, der Globus die alte dumme Kugel endlich ersetzen können.
Manche halten dies für eine schöne Utopie, die Vorstellung, dass die Welt überflüssig werden könnte, weil wir sie eines Tages im Studio, im Labor so perfekt nachahmen werden, dass wir ihrer gar nicht mehr bedürfen. Wo die sozialen Utopien zu Schanden gehen, dort blühen bizarr die technologischen auf, die verheißen, dass die Welt, da sie sich so resistent erwiesen hat, sozial verbessert und ökologisch bewirtschaftet zu werden, noch einmal erschaffen werden kann, erschaffen werden muss, um ihre Fehler zu korrigieren und die Unzulänglichkeiten der Schöpfung auszubessern.
Neue Karten, neue Modelle der Welt, die brauchen wir. Eine neue Welt brauchen wir nicht. Auf die Ideologen, die uns die Neue Welt mit einem Neuen Menschen darauf schmackhaft machen wollen, können wir verzichten; auf eine Kunst, die uns die alte Welt neu sehen lehrt und uns im ästhetischen Spiel daran erinnert, dass wir sie verändern können, hingegen nicht.