Alles nichts
FESTSPIELE / FAUST
11/08/16 „825 regelbare Stromkreise zu fünftausend Watt, zweitausend Scheinwerfer im Gerätepark…“ Die Lichttechnik im Großen Festspielhaus dürfte bis zur letzten Glühbirne im Einsatz sein: Regisseur Reinhard von der Tannen leuchtet das archetypische Geschehen gnadenlos aus und illustriert Charles Gounods „Faust“ mit glasklarer Ästhetik. Piotr Beczala, Ildar Abdrazakov und Maria Agresta bescheren ein sängerisches Festspiel-Highlight.
Von Heidemarie Klabacher
In der Studierstube, sonst ein düsteres staubiges Gemach, ist es taghell noch bevor der Morgen heraufdämmert. Im Zentrum der Weiß-in-Weiß gehaltenen Bühne liegt ein gleißender Lichtkreis. Dort, ein wenig unter Bodenniveau abgesenkt, in einem überdimensionalen schwarzen Ohrensessel windet sich verzweifelt der gelehrte Doktor Faust. In Leuchtschrift dräut das erste Wort von Charles Gounods Opéra „Faust“ über dem Gelehrten: „Rien“. Nichts. Nichts kann man wissen, erwerben, festhalten.
Nichts bewahrt das Individuum vor diesem Nichts… Im Schlussbild wird dieses „Rien“ zurückkehren. Die elegante Geschlossenheit der gesamten Inszenierung, die Heillosigkeit ihrer Botschaft, gipfelt in diesem „Nichts“.
In diesem zentralen Lichtkreis jedenfalls - einer absenkbaren Hebebühne mit ebenso absenkbaren kreisrunden „Wänden“, die sich bei Bedarf nach Privatheit schließen und öffnen können – in diesem Zentrum will Faust zunächst Selbstmord begehen. Hier befindet sich auch die Liebeslaube in Marthes Garten, das keusche Bett in Marguerites Kammer, der ebenfalls hell erleuchtete Kerker...
Doch auch über dieses auf den Punkt gebrachte Epizentrum hinaus beherrscht Reinhard von der Thannen als Ausstatter seiner eigenen Inszenierung die Bühne.
Die überdimensionalen Halb-Bögen links und rechts am Bühnenrand deuten gotische Gewölbe an, wecken Assoziationen zu herkömmlichen Faust-Bühnenbildern, stehen später aber auch grandios für die Kathedrale, in der Marguerite von den Dämonen ihres Gewissens gequält wird. Beim Gebet der reuigen Sünderin zur strengen Orgelmusik kommen speerspitze Orgelpfeifen vom Schnürboden herunter. Zum frohen Lied der heimgekehrten Soldaten wird gar eine bühnenportal-hohe Skelett-Marionette über Leichen gehen. Effektvoll – und gar nicht so lächerlich, wie das klingen mag.
Eine elegante begehbare Rampe im Hintergrund tangiert wie eine Flugbahn das beherrschende kreisrunde „Auge“ mit seinen elliptischen Augenringen: Vom alten ORF- oder ARD-Logo ist sogar im Programmheft die Rede, dort findet man allerdings auch eine Skizze mit den elliptischen Flugbahnen der Raumsonde Voyager.
Die bedrohlichen, schwarz glänzenden Kugeln, die gegen Schluss der Oper herein- und scheinbar planlos herumgerollt werden, könnten in dieser Assoziationsreihe durchaus Planeten sein, die für Marguerite gar nicht gut stehen und die von Faust erforscht wurden: Der naturwissenschaftliche Kontext der Faust-Story ist in der Produktion erhalten geblieben, alles „Zaubrisch-Magische“ hat Reinhard von der Thannen entsorgt. Hexenküche und Walpurgisnacht sogar mitsamt der Musik von Charles Gounod. Das ist dem Regisseur nur wirklich schwer negativ anzukreiden.
Das Publikum schien nicht besonders angetan von dieser Lesart zwischen Abstraktion und Opulenz, die sich konsequent auch auf die Kostüme erstreckt: Dass Faust und Méphistophélès bei Marthe und Gretchen mit dem Morgenrock unter dem strengen bodenlangen Mantel auftauchen – und darunter geradezu obszön wirkende hautfarbene Korsette sehen lassen – ist ein geniales Detail. Weniger genial ist der brünnhilden-artige Keuschheits-Brustschild, mit dem Marguerite erstmals in der Vision Fausts geschaut werden kann. Raffiniert dagegen das zwischen Ritter und Nazi changierende Outfit ihres Bruders Valentin.
Faust und Méphistophélès werden jedenfalls im Laufe der Ereignisse immer mehr zu Zwillingen in Kleidung und Gehabe. Damit öffnet Reinhard von der Tannen mit leichter Hand einen Deutungshorizont. Den groß besetzen Chor steckt er in einheitliche Harlekin-Kostüme und lässt ihn - in der Choreografie von Giorgio Madia - in einheitlichen stilisierten Bewegungen gehen, tanzen oder marschieren. Tumbe Masse. Schlacht- oder Stimmvieh. Singen könnte der Philharmonia Chor Wien da und dort ein wenig kräftiger, für seine überzeugende Gesamtperformance wurde er jedenfalls zu recht bejubelt.
Piotr Beczala ist ein darstellerisch etwas hutschenschleuderischer Faust mit Siebzigerjahre-Haarpracht, sängerisch ein Verführer mit samtweichem Timbre, egal in welcher Lage, mit souverän angesungenen und elegant aufblühenden Spitzentönen, mit mitreißender Kantilene und immer kontrollierter großer Geste. Ildar Abdrazakov ist sein in jeder Hinsicht ebenbürtiger Gegenspieler Méphistophélès, stimmlich geschmeidiger und samtiger, als man sich den Geist der stets verneint eigentlich vorstellt. Maria Agresta gibt eine bewegende Marguerite, natürlich und zurückhaltend in der Darstellung, stimmlich überzeugend und begeisternd mit ihrer souveränen Balance zwischen Leichtigkeit und Kraft. Eine Kategorie für sich Alexey Markov als stimmlich und darstellerisch präsenter Valentin. Marie-Ange Todorovitch als lüsterne Marthe, Tara Erraught als stimmlich eher leichtgewichtiger Siébel und Paolo Rumetz in der Kleinrolle des Wagner überzeugen.
Die Wiener Philharmoniker widmen unter der Leitung des Debütanten Alejo Pérez der Partitur Gounods, jedem der unzähligen Bläsersoli und dem fein ausbalancierten Streicherpart, alle nur wünschenswerte Aufmerksamkeit, Delikatesse und Virtuosität.