Der Untergang droht überall
FESTSPIELE / THE EXTERMINATING ANGEL / URAUFFÜHRUNG
29/07/16 Vielleicht sperren sie sich ein, weil sie den Blick vor dem verschließen - und nicht wahrhaben wollen - was draußen vorgeht? Ein faschistisches Regime scheint immerhin im Aufblühen begriffen zu sein… Weder Werk, noch Regie drängen eine plakativ tagespolitische Deutung auf. Und das macht „The Exterminating Angel“ spannend.
Von Heidemarie Klabacher
„The Exterminating Angel“, die dritte Oper des britischen Komponisten Thomas Adès, feierte am Donnerstag (28.7.) als erste Opernproduktion dieser Festspiele im Haus für Mozart seine minutenlang bejubelte Uraufführung.
Es lag aber auch ein spannender Abend hinter den Premieren-Gästen, die in Kleidung und Habitus nicht von den Protagonisten zu unterscheiden gewesen wären, hätten sich diese etwa in der Pause unters Publikum gemischt.
Die Geschichte hat der legendäre Regisseur Luis Buñuel in seinem Film „El ángel exterminador“ schon anno 1962 erzählt: Feine Herrschaften treffen sich nach der Oper zum Dinner, können den Raum nicht mehr verlassen und werden zu Gefangenen ihrer selbst, oder vielleicht auch irgend einer anderen Macht, realer oder irrealer Natur.
Tom Cairns, Librettist und zugleich Regisseur der Produktion, hat die 21 Hauptpersonen von Buñuels Film auf 15 reduziert: auf die Primadonna des vorangegangenen Opernabends, den Dirigenten und seine Gemahlin, eine berühmte Pianistin, auf den Doktor, die Gräfin aus uraltem Adel und ihren labilen Bruder, das junge Brautpaar, die Sterbenskranke, den hoch dekorierten Oberst und natürlich die reichen Gastgeber. Dazu kommt das Hauspersonal, das aber etwas zu wissen scheint und während des Eintreffens der Gäste - im Bühnenbild von Hildegard Bechtler - fluchtartig das Haus verlässt.
Nur der Butler bleibt zurück. Er stolpert mit dem Ragout und serviert irgendwann das Wasser aus den Blumenvasen. Mit Zitronensaft, gegen den Geruch. Gegen den Geruch der ersten Leiche aus dem Wandschrank lässt sich weniger leicht etwas unternehmen. Die hilfreichen Schranken der gesellschaftlichen Etikette und der bürgerlichen Erziehung brechen alsbald ein. Auf Angst folgen Verzweiflung und Gewalt.
Die Musik von Thomas Adès lässt in ihren „modernsten“ Augenblicken an einen postromantischen und altersmilde gewordenen Benjamin Britten denken. Sie erschreckt nicht. Sie fordert freilich auch nicht. Aber die Musik von Thomas Adès lädt mit der Überzeugungskraft facettenreicher virtuoser Instrumentierungskunst – gerne einmal überhöht von den ätherischen Klängen der Ondes Martenot – zum Versinken ein. Zum Versinken in gleichermaßen opulenten Klängen und Bildern. So bleibt man zweieinhalb Stunden gerne und mit großer Aufmerksamkeit bei der Sache.
Das ist dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien – unter der Leitung des Komponisten – und dem grandiosen Sänger-Ensemble gleichermaßen zu danken. Die vokale Bandbreite der handverlsenen Solisten reicht von den atemberaubenden Koloratur-Höhen der Sopranistin Audrey Luna als Primadonna Leticia Maynar, über den Contertenor des Alte-Musik-Experten Iestyn Davies als degenerierter Francisco de Ávila, bis hinunter in die orgelnden Basstiefen von John Tomlinson als Doctor Conde.
Der Librettist und Regisseur Tom Cairns führt eine simple Personenregie und lässt die Gesellschaft genau so agieren, wie jede x-beliebige bessere Gesellschaft bei einem Charity- oder Premieren-Dinner. Er lenkt den Blick – wie ein Gesellschafts-Reporter – einmal hierhin, einmal dorthin, wo sich unter den Reichen und Schönen was tut. Und er folgt damit auf das Genaueste der Musik.
Immer wieder treten Einzelpersonen, öfter aber Zweier- oder Dreiergruppen, für einzelne kleine Solo-Szenen aus dem Ensemble heraus. Das sind Ruhepunkte in der sich kontinuierlich steigernden Panik und den sich ebenso kontinuierlich auflösenden Grenzen der Konvention.
Das Brautpaar, das selbstvergessen seine erste (und letzte) Liebesnacht miteinander verbringt. Die drei Damen, die immer mehr an die Hexen in Macbeth erinnern. Die dekadente Gräfin, die – den Kadaver eines frisch geschlachteten Lammes im Arm – ihr Söhnlein in den Schlaft zu wiegen glaubt... Da erreicht die Instrumentierungslust des Komponisten ihre Höhepunkte. Dann gibt es mal ein Gitarren-Solo zum Gesang, Glocken, immer wieder Glocken, aber auch klassische Klavierbegleitung oder elektronische Klänge. Sehr bunt, sehr opulent. Beliebig könnte man es auch da und dort nennen. Aber auch effektvoll. Bilder, die in ihrer Fülle immer wieder zum Dechiffrieren anregen... Musik, der man mit Vergnügen auf die Instrumentierungs-Schliche kommen will… Die echten (!) Schafe und die Video-Projektion vom „Eiskalten Händchen“ waren vielleicht doch ein wenig übertrieben und auch sehr unnötig. Dafür gibt es aber auch keine plumpen tagesaktuellen Anspielungen, die ja doch nur Geheimnis und Poesie von der Bühne jagen. Ein spannender Abend. Was will man eigentlich mehr von Oper? Die Welt müssen wir schon selber retten.