Die Hexe ist das böse andere Ich
FESTSPIELE / DIDO AND AENEAS
19/08/15 Da haben die Festspiele mächtig geflunkert und sich in falscher Bescheidenheit geübt: Henry Purcells „Dido and Aeneas“ in der Felsenreitschule war keine konzertante, nicht mal eine semiszenische, sondern eine vollgültige Bühnenaufführung: Die Geschichte eines Jugendtraumas.
Von Reinhard Kriechbaum
Henry Purcells Werk beantwortet ja nicht, was es mit der Zauberin auf sich hat, die ungut hinein funkt in die Liebe zwischen Dido, der Gründerin Karthagos, und dem göttlichen Auftrag gemäß gen Italien strebenden Aeneas. Der wäre ja besten Willens, auf die Gründung Roms zugunsten der attraktiven Dido zu verzichten...
Thomas Hengelbrock, der auch Regie führt, bringt eine Schauspielerin – die souveräne Johanna Wokalek – als Didos Doppelgängerin und Alter ego ein: Die Chef-Zauberin steht für die Schattseite dieses Charakters, für erlittenes Unrecht und Flucht. Karthago ist Exilland der phönizischen Ex-Prinzessin. Täte nicht schaden, seinen Vergil intus zu haben: Aber das Notwendige wird hier zu geborgter Musik (aus einer Cavalli-Oper) als Art Melodram erzählt, von der Schauspielerin, die u.a. bei Nietzsche („Die Bösen liebend“) fündig geworden ist.
Die jugend-traumatisierte Dido wird – von der Zauberin wie eine Marionette dirigiert – selbst Aeneas den Weg nach Italien weisen. So plausibel erklärt das den Satz in dem von Purcell vertonten Libretto, wo es heißt: „Große Seelen fügen sich selbst Leid zu und verschmähen die Hilfe, die sie am meisten ersehnen.“ Unprosaisch gesagt: Man steht sich ja doch meist selbst im Weg...
Die Felsenreitschule ist weitestgehend entrümpelt. Blau erleuchtete Arkaden, drei Felsbrocken als einzige Dekorationsteile. Auf oder neben irgendwas müssen die Protagonisten schließlich sitzen oder entseelt hinsinken. Der Chor ist gut bewegt und choreographiert (Gail Skrela). Was die Ausstaffierung betrifft, haben sich die Festspiele für diese eine einzige Aufführung nicht lumpen lassen. Die Sängerinnen und Sänger des Balthasar-Neumann-Chores stecken in lang wallenden Kostümen, die aussehen wie aus einem frühbarocken Genre entnommen. Aber im Rockumdrehen mutieren sie zum schwarzen Hexengefolge.
Das alles wirkt so durchdacht wie unprätentiös. Es bestätigt sich, was für eine stimmungsvolle Naturkulisse die Felsenreitschule pur doch sein kann. Der Chor hat spürbar Freude an seiner darstellerischen Aufgabe, die deutlich übers Raum-Auffüllen hinaus reicht. Musikalisch sind die Chorsätze für ein Ensemble wie den Balthasar-Neumann-Chor keine echte Herausforderung, es bleiben genug Ressourcen fürs Szenische. Thomas Hengelbrock und das Balthasar-Neumann-Ensemble: natürlich auch verlässliche Aufführungspraktiker für Purcell. Fest zu halten ist beispielsweise, wie gut im Riesenraum die differenziert und vielfältig besetzte Continuogruppe rüber kommt.
Überhaupt: „Dido and Aeneas“ wirkt auch musikalisch unverkrampft umgesetzt, denkbar schlicht und unforciert. Nicht der geringste Emotions-Überdruck. Umso berührender Kate Lindsey in der Titelrolle, mit instrumental-flexiblem, völlig vibrato- und daher schlackenlosem Sopran singt sie von (Selbst-)Zweifeln und Tort, schleudert Aeneas sehr bestimmt ihr „Away, away!“ entgegen. Und sie stirbt ganz leise im Stockdunkeln. Dafür haben sogar die Instrumentalisten ihren Part über eine lange Strecke auswendig gelernt. Katja Stuber ist die Dienerin Belinda. Benedict Nelson als vergleichsweise grobschlächtigem Aeneas nimmt man sofort ab, dass er für jahrelang in Kriegsangelegenheiten unterwegs war. Nicht zu vergessen die Hexe: Johanna Wokalek findet sich auch singend mit Charisma und Taktgefühl zurecht zwischen den Alt-Tönern. Insgesamt runde Ensemble- und Sololeistungen der Balthasar-Neumann-Crew.
Viel Aufwand für ein Mal 75 Minuten Barockoper zur Nachmittagsstunde? Ja, echt festspielwürdig. Aber Thomas Hengelbrock hat für 2016 schon Fäden für Aufführungen in Hamburg und Wiesbaden fest gemacht.