Über alles Trennende hinweg
FESTSPIELE / KAMMERKONZERT / WEST-EASTERN DIVAN ORCHESTRA / BARENBOIM
14/08/15 Ein Abend, der die sinnstiftende Idee des Völker-übergreifenden Konzepts von Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra besonders verdeutlichte: Israelis spielten den in ihrer Heimat nach wie vor verpönten Wagner, Palästinenser wiederum den Juden Schönberg. Und danach alle zusammen „contemporary“ Pierre Boulez. Begeisternd!
Von Horst Reischenböck
Es ist in allen Fällen einfach gute Musik, und um die ging es am Donnerstag (13. 8.) im Großen Saal des Mozarteums. Wohin könnte Richard Wagners Siegfried-Idyll WWV 103 akustisch noch besser passen - in der originalen solistischen Besetzung: Das ist im Kern also ein Streichquintett, angeführt von Michael Barenboim, derzeit Konzertmeister des West-Eastern Divan Orchestra. Ihm als souveräner Ruhepol vis-a-vis Hans Stockhausen am Kontrabass, dahinter aufgefächert die Bläser. Wagners an Cosima adressierter „Symphonischer Geburtstagsgruß“, seine letzte reine Instrumentalkomposition, erblühte unter Daniel Barenboims Händen in allen Facetten zu voll sinnlich romantisch schwelgerischer Blüte.
In reizvollem Gegensatz dazu: Arnold Schönbergs packende, scheinbar ähnliche, ebenfalls einsätzige Kammersinfonie Nr. 1 E-Dur op. 9 mit der er bewusst jeglichen überschwänglichen „Ballast“ abzuwerfen – und zugleich auch den übermächtigen Wagner geradezu hektisch zu überwinden trachtete.
Barenboims ökonomische Zeichengebung führte auch hier seine grandiosen jugendlichen Mitstreiter auf dem Podium in den Parnass und damit schon vor der Pause in frenetischen Jubel.
Man darf gespannt sein, wie sich die Mitbewerber des Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta gegen Monatsende dieser Herausforderung im Großen Festspielhaus stellen werden. Bewundernswert, wie und dass sich Daniel Barenboim trotz allen Einsatzes in den dieses Programm umrahmend beiden großen Orchesterkonzerten danach noch „sur Incises“ von seinem Freund und Wegbegleiter Pierre Boulez einer nicht zuletzt für Hörer noch weit komplexeren Partitur hingab: in der „Letztgestalt“ nach zehn Jahren „work in progress“. Hervor gegangen ist das Stück aus Boulez' erstem Klavierstück nach seiner der dritten Sonate. Drei Flügel und umfangreiche Batterie dahinter – Pauken, Steel Drums, Vibraphon, Marimba, Glockenspiel, Crotales (Messingscheiben) und Glocken, gleichfalls durch drei Spieler zu bedienen: fast wie eine Übersteigerung von Bela Bartoks bahnbrechender Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug (die übrigens ebenfalls für den Basler Mäzen Paul Sacher entstand).
Was ist zu erleben? Minimalistische Strukturen in zwei ineinander übergehenden Abschnitten, die sich nur schwer hörbar aufschlüsseln lassen (und wohl auch nicht so gedacht sind). Die Bewegungen münden nach emotionaler Beruhigung in schneidend schlagende Akkorde, gemäß der dem Titel entsprechenden „Gravur“.
Ein Manko der Wiedergabe: Die Beiträge der neben den drei Klavieren postierten drei Harfen waren schon im vorderen Parterre weitgehend unhörbar geblieben. Aber das schmälerte den durchschlagenden Erfolg nicht: Wieder einmal ein Beweis dafür, dass auch Zeitgenössisches längst Teil des Festspielgeschehens geworden ist.