Ein Klassiker, der schön stört
HINTERGRUND / FESTSPIELE / BOULEZ
08/08/15 Als Fünfzehnjähriger habe er bereits Musik von Boulez gespielt, erzählt Pierre-Laurent Aimard. „Damals dachte ich, dass ich irgendwann müde werde von dieser Musik“, sagt der Pianist. „Aber das ist nie passiert!“
Von Anne Zeuner
Noch immer finde er neue Kraft des Schöpfens in den Klavierwerken von Pierre Boulez, versichert Aimard. Die Freiheit der Musik inspiriere ihn zu neuen Interpretationen, zu einem neuen Klang auf dem Klavier. „Oft schaut man die Stücke wie Monumente an, dabei zeigen sie die Neugier des Mannes, wie er immer wieder für seine neuen Ideen gekämpft hat.“
„Jemand, der sich die Noten zum ersten Mal anschaut, wird sie sicher fremd finden“, sagt Pierre-Laurent Aimard. Warum ist das so kompliziert, könne man denken. Doch die Musik höre sich an, wie die natürlichste der Welt, sagt Aimard. „Das kommt daher, dass Boulez die Musik so konstruiert wie er fühlt.“
Das Stück „Structures pour deux pianos: Livre II“ (1956–1961) etwa sei in den Tempi sehr interessant. Fast wie in einem Videospiel fühle man sich am Anfang, sagt Pianistin Tamara Stefanovich. Sie spielt heute Samstag (8.8.) zusammen mit Pierre-Laurent Aimard das pianistische gesamtwerk von Boulez. Der Komponist habe schöne organische Phrasen notiert, die ein Musiker sowieso an diesen Stellen so interpretieren würde, sagt sie. Sie wolle den sinnlichen Charakter von Boulez erfahrbar machen.
Daher, so Tamara Stefanovich, habe sie auch ein Projekt mit Jugendlichen gemacht. Zusammen mit fünf Teenagern im Alter von 12 bis 15 Jahren habe sie sich an die zeitgenössische Musik herangetastet. „Ich wollte weitergeben, was ich selbst in dieser Musik entdeckt habe.“ Sie selbst sei leider nicht ausgebildet worden in Neuer Musik. Durch Zufall sei sie später darauf gekommen. „Ich finde für die Neue Musik gibt es viele offene Türen, man braucht nur den Schlüssel dafür“, meint die Pianistin. Aus den „12 Notations“ durfte sich der Nachwuchs jeweils ein Stück heraussuchen. „Es war sehr interessant, dass sie eher die frechen, die schwierigeren Stücke zur Analyse ausgewählt haben“, sagt Tamara Stefanovich. „Gemeinsam haben wir die Neue Musik entdeckt. Sie verdient das Image nicht, schwer zugänglich zu sein.“
„Extreme kompositorische Virtuosität steckt nicht drin, aber ein gewisses Risiko“, sagt Tamara Stefanovich über den Schwierigkeitsgrad von Boulez' Klavierwerken. Die 2. Sonate etwa sei perfekt formuliert. „Die Ideen sind sehr klar. Über dieser Struktur gelingt es dennoch, das Publikum mitzunehmen.“ Das Stück entwickle sich „zu einem Mysterium, in akustische und pianistische Unmöglichkeiten“, wie sie es formuliert. Das Ohr sei gereizt bis zur Grenze.
Pierre-Laurent Aimard hat Boulez bereits kennengelernt, als dieser 51 Jahre alt war. „Damals war er schon der Mount Everest“, sagt der Pianist. Er sei ein Mensch voller Humanität mit einem enormen Einsatz für die Musik und er sei immer der Sache verpflichtet. Sowohl menschlich als auch moralisch sei er ein Modell.
Natürlich spiele er heute die Werke von Boulez anders als noch vor 20 Jahren, sagt Aimard. Das sei ganz natürlich, schließlich habe er sich weiterentwickelt, außerdem entdecke er in der Musik immer wieder neue Schichten und versteckte Ebenen. Für viele sei die Musik von Boulez 1992 provokant gewesen, heute habe man den Eindruck sie werde natürlicher vom Publikum aufgefasst. War Boulez also 1992 ein Moderner und ist jetzt ein Klassiker? „Vielleicht“, sagt Pierre-Laurent Aimard, „aber ein Klassiker, der schön stört!“ (PSF)