Im Wasserfall der Tränen
FESTSPIELE / ANNA PROHASKA, ARCANGELO
30/07/15 Von „Tränenfluss“ kann man da nicht mehr sprechen. Barbara Strozzi hat in „Lagrime mie“ einen See von Tränen aufgestaut – und wenn Anna Prohaska das singt, dann kann der Psycho-Befund nur lauten: ein Dammbruch, der keine Seele unüberschwemmt lässt.
Von Reinhard Kriechbaum
Um ein solches Naturereignis entsprechend wahrzunehmen, braucht es freilich eine gewisse Nähe: Der Schreiber dieser Zeilen darf sich glücklich schätzen, am Mittwoch (29.7.) in der dritten Reihe quasi unmittelbar im Wasserfall der Tränen gesessen zu sein, also ein Musik-Canyoning der Sonderklasse erlebt zu haben. Pausengesprächen war dann zu entnehmen, dass die Wasserflut in den hinteren Sitzreihen der Kollegienkirche rapide getrocknet ist. Keine Frage: Dieses wundervolle, auch ausverkaufte Konzert hat höchstens ein Viertel der Ohren so erreicht, wie man es sich wünscht. Die Kollegienkirche war der absolut falsche Raum dafür.
Es passt eben nicht Barockmusik zwingend in einen Barockraum, und es passte vor allem dieses Programm mit dem Titel „Lachrimae“ so ganz und gar nicht in die Kirche – auch wenn Tarquinio Merula in „Hor ch'e tempo di dormire“ (einem Klassiker der frühbarocken Monodie) die Gottesmutter ein Schlaflied singen lässt. Maria steigert sich über einem Zweiton-Bass in namenlose Trauer hinein mit ihren Vorahnungen, was dem Kind alles bevorsteht. A propos Hineinsteigern: Auch Henry Purcells „Tell me, some pitying angel“ ist in seinem Emotionsgehalt nicht von schlechten Eltern: Maria ist höchst besorgt, weil der Bub dahin ist. Der Zwölfjährige disputiert derweilen mit den Gelehrten im Tempel...
Das war's auch schon mit geistlichen Bezügen. Vorwiegend lamentieren in diesen Gesängen von John Dowland und Francesco Cavalli, über Barbara Strozzi und Giovanni Felice Santes bis eben Henry Purcell die verlassenen Liebhaber/innen. Der denkbar attraktivste Seelen-Tort des Seicento war da beisammen, aber in die Kollegienkirche gehört das alles nicht.
Auch deshalb, weil diese große Musik in großer Interpretation trotzdem Intimität verlangt: nach dem Hörer als unmittelbares Gegenüber der Ausführenden. Die Töne dürften sich nicht im Raum verlieren. Die Sopranistin Anna Prohaska ist unerhört stilkundig und sie weiß genau um die Notwendigkeit, wo die Emphase zurückzunehmen ist, wo die leise Klage doppelt stark wirkt. Das wird nicht nur Phrase um Phrase, sondern Wort für Wort durchgespielt. Man könnte es manieriert nennen, aber es ist eben eine Epoche, in der das exzessiv Über-Betonte ein Ausdruck der Zeitstimmung war.
Anna Prohaska setzt die Bildwelten von Barockmalern adäquat um. Selbst eine Alleluja-Koloratur (bei Purcell) kostet sie in allen dynamischen Werten aus. Und wenn die Instrumentalisten (zeittypisch: Variationen von Chaconne-Bässen) melodische Wegstrecken markieren, dann setzt sie sich als die Inhalte intensiv nachzeichnende Sängerin über all das hinweg, deklamiert quasi frei und immer auf die rhetorische Geste bedacht. Auch das: zeit-typisch, aber nur wenigen Sängerinnen und Sängern gelingt es, diese am literarischen Ausdruck sich orientierende Gesangspraxis so organisch, wie selbstverständlich umzusetzen.
Das Ensemble „Arcangelo“ um den Cembalisten Jonathan Cohen ist eine fulminante Gruppe von Klangrednern, die ihrerseits die Rhetorik des 17. Jahrhunderts quasi im kleinen Finger haben. Und so wissen diese Aufführungspraktiker der jungen Generation immer ganz genau, wo sie die Emotionen der Sängerin tendenziell verstärken müssen, und ebenso gut, wo das Sich-Zurückhalten umso mehr Effekt macht. Dies sehr oft. Auch das war ein Grund dafür, dass man sich des genauen Hörens Willen mit diesen wunderbaren Musikern in einen kleineren Raum gebeamt sehen wollte.
Die wahrscheinlich allerbeste Idee ist wohl, sich dieses Konzert im Hörfunk gleich nochmal zu geben, mit dem Ohr ganz nahe...