Junger Hupfer und Grandseigneurs
FESTSPIELE / ACADEMY OF ST. MARTIN IN THE FIELDS / PERAHIA
25/08/14 Das können die auch alleine, mag Murray Perahia gedacht haben. Und ließ seine Londoner erst mal selbst zeigen, was sie drauf haben. Erst dann trat er, mit Partitur, ans Dirigentenpult, steuerte die Briten-Profis durch einen raren Haydn, bis er, nach der Pause, sich dirigierend ans Piano setzte – für einen Beethoven, der „alle Stückln spielte“.
Von Hans Gärtner
Murray Perahia ist längst vom Klavier-Stuhl ans Dirigier-Pult gewandert, nicht ohne immer wieder dorthin zurückzukehren, von wo aus er, seit vor nunmehr über vier Jahrzehnten, eine Welt-Karriere startete. Die fatale Geschichte vom eingeritzten rechten Daumen kennt die Musikwelt zur Genüge: Ein Blatt starkes Papier verletzte und infizierte Perahias linke Handglied so stark, dass der Künstler vor dem Aufgeben seiner Pianisten-Laufbahn stand und darob schier verzweifelte.
An ein Wunder grenzt, dass Perahia, nach mehreren Rückfällen, heute wieder spielen kann und nebenher ein Orchester leitet. – Und dann auch noch das Orchester, als dessen Erster Gastdirigent er in der Salzburger Felsenreitschule auftrat: die von Sir Neville Marriners vor drei Jahren an Josua Bell abgegebene „Academy of St Martin in the Fields“.
Bedenkt man, was dieses Orchester alles bisher, namentlich aber in den letzten zehn, zwanzig Jahren einspielte und aufführte, lieferte es unter Perahias Obhut in Salzburg eher „Pipifax“ ab. Kleinigkeiten also, die es gut und gerne einem anderen, weniger bedeutenden Kollektiv hätte überlassen können. Doch halt! Selbst der heute wohl etwas sperrig anmutende erste größere symphonische Versuch des gerade mal 13-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy, die Symphonie Nr. 7 d-Moll von 1822, geriet den dirigentenlosen Streichern zu einem kleinen Juwel. Die Sanftheit selbst: der so liebevoll mit „Andante amorevole“ bezeichnete zweite Satz. Die Fieberhaftigkeit selbst: der fugenschöne Abgesang mit dem gewollt eiligst gebrachten „Allegro molto“.
Mit der Eile hatte es Murray Perahia dann aber schon gar nicht. Die Symphonie B-Dur Hob. I: 77 von 1782 verlangt ein „Vivace“ als Einstieg in das selten gespielte Werk. Doch der ein wenig neben dem Pult stehende Dirigent ließ die Sache urgemütlich angehen. Herzhaft wurde er erst im freilich zart initiierten Finale-Satz, mit hurtigen Läufen der ersten Geige, die alle anderen, auch das wunderbar abgefangene Horn, mitriss in ein ungestümes „Allegro spiritoso“, das nun wirklich alle früheren Zögerlichkeiten vergessen ließ.
Vom jungen Hupfer Mendelssohn über den Etablierten Haydn zum Grandseigneur Beethoven – die Steigerung war programmatisch perfekt. Perahia setzte sich, mit dem Rücken zum Publikum, an den mitten in die nun gut eingeölte „Academy“ gestellten offenen Flügel. Er legte überzeugend mit dem schmuckreichen Entree des 5. Klavierkonzerts Es-Dur op. 73 los, um von da an nicht mehr zu sparen an intensiven Momenten, starken Impulsen – oder andächtigen Weichspüler-Passagen. Die spannungsgeladene Atmosphäre, die Perahia in seiner Doppelfunktion als dirigierender Pianist herstellte und mit der er mehrmals an die Situation des schon von seiner Ertaubung niedergedrückten, an Suizid denkenden 41-jährigen Komponisten erinnerte, hielt, nicht zuletzt dank der professionellen Instrumentalisten bis zum Ende des populären letzten Beethoven-Klavierkonzerts an.
Dass dieses Ende von einem unsensiblen „Bravo“-Rufer entweiht wurde, war bedauerlicher als der technische Licht-Defekt, der die liebwerte Londoner Academy mit ihrem umjubelten überglücklichen Spiritus Rector im Dunkeln stehen ließ und eine wohl geplante Zugabe vereitelte.