Ein „keckes Beserl“ und eine tiefsinnige Dame
FESTSPIELE / RSO WIEN
10/08/14 So schön kann neue Musik sein, so über den Zeiten schwebend, so sinnlich und so melodisch: Marc-André Dalbavies Kunst der Hommage und der Feinzeichnung findet direkt zum Publikum und verband sich im Konzert des RSO Wien mühelos mit einem Star der Barockszene und mit der „Ersten“ von Anton Bruckner.
Von Gottfried Franz Kasparek
Die völlige Ortlosigkeit ist eines der gravierenden Probleme der strikten Avantgarde. Musik, die eine bestimmte regionale Sprache spricht, ist oft in Wahrheit internationaler, als eine, die jegliche Verbindung zu durchaus auch ethnischen Traditionen ausspart. Dalbavie hat die französische Klangsensibilität gleichsam neu erfunden. Hört man seine Musik, so hört man die Tradition von Berlioz über Fauré und Debussy bis zu Messiaen und Grisey gleich mit – und vernimmt dennoch Neues. Im Orchesterstück „La Source d’un regard“ aus dem Jahr 2007 ist es das berühmte „Akkordthema“ aus Messiaens Klavierzyklus „Vingt Regards sur l’enfant Jésus“, welches als Baustein einer liebevollen Phantasie-Hommage für großes Orchester dient, die vom ersten Glockeneinsatz über witzige Detailarbeit zu überraschend großer, romantisch expressiver Geste und zartem Schlusspunkt führt. Das mittlerweile hoffentlich in seinem Bestand gesicherte RSO Wien und sein höchst kompetenter Chefdirigent Cornelius Meister spannten den weiten Bogen dieser faszinierenden, wahrlich laut Komponist „mit Harmonien malenden“ Musik mit spürbarer Freude am Klang und an pointierter Eleganz.
Dann betrat der wunderbare Countertenor Philippe Jaroussky das Podium der Felsenreitschule und sang, sorgsam und mitatmend begleitet von Maestro Meister, die „Sonnets de Louise Labé“, diffizile Vertonungen der tiefsinnig um die Liebe kreisenden Sonette, welche Lousie Labé, eine emanzipierte Frau von 1550, geschaffen hat. Eine Ikone der französischen Literatur, die Dalbavie mit wundersam melodischer Kraft zu musikalischem Leben gebracht hat.
Dalbavies Schreibweise für die menschliche Stimme könnte man auch als Wiedergeburt des Belcanto bezeichnen. Jaroussky, dem das Werk schon bei der Uraufführung 2008 gewidmet war, sang mit Gusto und Gefühl und über jeden technischen Zweifel erhaben. Das Orchester malte die nuancenreichen Stimmungen der Partitur mit Hingabe und Präzision. Nicht nur die Interpreten, auch der anwesende Komponist wurde bejubelt. Dass die Felsenreitschule nur zu gut zwei Drittel gefüllt war, hatte neben der Überzahl der Festspielveranstaltungen seinen Grund sicher auch in der Angst des Publikums vor unverständlicher Moderne. Dalbavies Musik zählt zu jener, die das beste Gegenmittel gegen Letzteres darstellt. Bitte weitersagen!
Anton Bruckners „Erste“ passt in ihrer federnden Rhythmik und melodischen Ausgelassenheit sehr gut zu Dalbavies Stilistik, obwohl sie natürlich sehr österreichisch „spricht“. Das von Bruckner selbst als „keckes Beserl“, forsche junge Dame, bezeichnete Stück, in Wahrheit sein zweiter Beitrag zur Gattung nach der eklektischen f-Moll-Symphonie – die „Nullte“ entstand zum Teil gleichzeitig – erklang in der neuesten Urtextversion, angeblich genauso wie anno 1868 bei der Uraufführung. Die Unterschiede zur bisher geläufigen „Linzer Fassung“ sind eher marginal; manches klingt schärfer, dissonanter. Der späteren „Wiener Fassung“ mit ihren Glättungen sind die jugendlich frischen Linzer Versionen auf jeden Fall vorzuziehen.
Der auswendig dirigierende Cornelius Meister empfahl sich eindruckvoll als leidenschaftlicher, temperamentvoll modellierender, doch ebenso im richtigen Moment Atem holender Bruckner-Interpret. Gäbe es das in jedem Takt mit Perfektion und Leuchtkraft musizierende RSO Wien nicht, so müsste man es erfinden. Große Begeisterung im Auditorium.