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Ihr Tagebuch ist ein expressionistischer Comic strip

 

FESTSPIELE / CHARLOTTE SALOMON

29/07/14 Im Epilog werden sie endgültig eins geworden sein, synchron in Geste und Mimik: Charlotte Salomon, die Erzählerin, und Charlotte Kann, die singende Protagonistin der Oper von Marc-André Dalbavie. Die eine das Alter ego der anderen, zwei junge Frauen, die nicht nur von den hinteren Stuhlreihen der Felsenreitschule als eine wahrgenommen werden.

Von Reinhard Kriechbaum

Die eine ist die Schauspielerin Johanna Wokalek. In der ersten Szene sitzt sie im Korbstuhl an der Seite der Bühne: „Eine Frau sitzt am Meer. Sie malt...“ Als Erzählerin wird Wokalek alias Charlotte Salomon ihr kurzes Leben schildern. In Berlin hat es begonnen, es war geprägt von den Drangsalierungen durch die Nazis, aber auch von der latent über der Familie schwebenden Depression. Mutter, Großmutter und drei weitere Verwandte haben den Freitod gesucht. Im südfranzösischen Exil wird Charlotte Salomon sich malend befreien vom doppelten Alptraum – und ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da sie sich als Künstlerin quasi am eigenen Schopf aus dem Schlamassel zieht, Opfer werden in Auschwitz. Ermordet als 26jährige.

Die andere, das ist die Sängerin Marianne Crebassa. „La la la …“, wie ein Kinderlied kommt es ihr über die Lippen. Das Mädchenhafte im Singen, das geradezu aufmüpfig Unbeschwerte trifft diese famose Sängerin auf unnachahmliche Weise. Ein Trotzkopf ist sie, zugleich tiefsinnig und sehnsuchtsvoll. Eine kindlich-ungläubige Beobachterin des Unfassbaren, so wie die sprechende „erste“ (oder doch: zweite?) Charlotte. Es ist nicht die eine die Überhöhung der anderen. Beide sind eins, wirbeln gemeinsam über die Bühne, tauschen die (gleiche) Rolle, und wenn man als Zuschauer nicht genau aufpasst, dann ist man nachgerade überrascht, wenn die eine zu singen beginnt, wo man doch mit der Sprecherin gerechnet hat…

Charlotte Salomon, 1917-1943. Sie hat kein Tagebuch hinterlassen wie Anne Frank, sondern ein eigenwilliges malerisches Werk, 1325 Gouachen, Gemälde oft mit Text. Deutscher Impressionismus und Comic strip, mit Anklängen an Chagall und manch andere. All das liegt jetzt im Jüdischen Museum in Amsterdam, ist wissenschaftlich gut aufgearbeitet, in Ausstellungen dokumentiert, aber doch (noch) nicht Allgemeingut. Das könnte jetzt anders werden, denn der französische Komponist Marc-André Dalbavie hat mit seiner Oper, einem Kompositionsauftrag der Festspiele, ein Werk geschrieben, das auf jeden Fall „repertoiretauglich“ ist.

Keine schwer zugängliche „Moderne“. Ja nicht einmal eine misszuverstehende Post-Moderne tönt aus dem Orchestergraben. Der Komponist selbst dirigiert das Mozarteumorchester, serviert eine klangsinnliche, zarte, feine, kaum je durch dramatische Wolken eingedunkelte Renaissance des Schönklangs. Ja freilich, das ist post-modern zu deuten, als verdächtig machendes Statement zu den Gräueln des Holocaust. Aber eben auch: schlicht, schön, ohrenschmeichlerisch. Der Grat zum Kitsch ist messerscharf.

Dass es dann Kitsch doch nicht wird, hängt mit der ganzheitlichen Konzeption dieser Ur-Inszenierung zusammen. Die Arkaden der Felsenreitschule kommen nie ins Bild. Die Bühne von Johannes Schütz: ein immens in die Breite gezogener grauer Guckkasten. Durch von hinten eingeschobene Wände ist er rasch in viele kleine Zimmer zu teilen, blitzschnell aber auch auf- und ausgeräumt. In dieses mit Stühlen möblierte Flexi-Puppenhaus werden ausgewählte Bilder aus Charlotte Salomons Gouachen-Mappe „Leben? oder Theater?“ projiziert. Aus dieser bildnerischen Autobiographie, aus Bild und Text, hat Barbara Honigmann das Libretto destilliert.

Die eigenwillige Mischung aus Expressionismus und Naivität in den Bildern der Charlotte Salomon geht erstaunlich gut zusammen mit der Musik von Dalbavie, vor allem aber ist es Regisseur Luc Bondy, der diese Balance herstellt: Die Geschichte der Charlotte Salomon könnte ja die Fantasie so recht in Gang setzen. Genau dieser Fabulierlust versagt sich Bondy. Er bleibt haargenau an der Geschichte, konzentriert sich auch im großen Raum der Felsenreitschule auf kleine Gesten, auf genaue Personenführung, auf eine sachliche „Lebens-Nacherzählung“, die diese Oper ja als Ganzes auch ist. Die Nazi-Schergen als Männerchor mit Hakenkreuz-Armbinden: Das muss genug sein. Die Kunstakademie-Szene mit dem auf „klassisch“ hergerichteten bodenstämmigen Tiroler Model: pikant, aber eben nicht aufdringlich überzeichnet. Der Regisseur weiß stets, wann es genug ist.

Umso genauer hat Luc Bondy die Beziehungen zwischen den Akteuren herausgearbeitet, vor allem jene zum Gesangslehrer der Stiefmutter der Charlotte Salomon: Das ist eine Menage à trois, denn dieser Amadeus Daberlohn (mit richtigem Namen hieß er Alfred Wolfsohn), ein rechter Egomane, vernascht Mutter und Tochter – eine Beziehung an der Charlotte Salomon zu tragen hat, die sie aber auch reifen lässt.

Frédéric Antoun, ein strahlender lyrischer Tenor, singt diese Rolle, die neben Marianne Crebassa wichtigste und mit-tragendste Gesangspartie. Anaik Morel ist die Stiefmutter Paulinka Bimbam – ebenfalls eine Mezzosopran-Partie. Das gehört wohl zur Klangdramaturgie des Komponisten, dass die Stimmlagen meist in mittleren Lagen fließen. Durchwegs akkurat wird gesungen, und im Detail sind die anderen Protagonisten liebevoll und charismatisch gezeichnet: Cornelia Kallisch etwa als Großmutter („Frau Knarre“), die vor den Augen der beiden Charlottes aus dem Fenster springt. Jean-Sébastien Bou ist Doktor Kann, Charlottes Vater, Vincent Le Texier der Großvater.

Zwei Stunden zehn Minuten dauert die Aufführung – das epische Stück würde wohl keine Pause vertragen. Sitzfleisch braucht’s, aber es wird ja das Ohr recht oft mit kleinen Ratespielen beschäftigt: Die Malerin Charlotte Salomon hat ihre Mappe „Leben? oder Theater?“ ja ein „Singespiel“ genannt und manche Musik genannt, die ihr zu den einzelnen Blättern durch den Kopf gingen. Diese Musik hat Marc-André Dalbavie eingebaut, im Original zitiert (das reicht bis zur Schellack-Aufnahme der „Habanera“ aus „Carmen“), mit erheblichem Raffinement verfremdet. Das Liedsatz-Schreiben, das könnte man von diesem Komponisten lernen. Tollkühn geht es da oft durcheinander, wenn die „Habanera“ gar einmal mit dem Brautchor aus dem „Freischütz“ verschnitten wird. Es geht quer durch Kinderlieder, jüdische Lieder und Arien, die die (echte) Charlotte Salomon von ihrer (echten) Stiefmutter Paula Salomon-Lindberg gehört hat. Diese Sängerin hat übrigens, wie Charlottes Vater, den Holocaust überlebt und war nach dem Krieg Gesangslehrerin an der Sommerakademie in Salzburg.

Die Uraufführung am Montag (28.7.) in der Felsenreitschule war ein Publikumserfolg sondergleichen, Jubel vor allem für die beiden „Charlottes“ Johanna Wokalek und Marianne Crebassa.

Weitere Aufführungen am 2., 7., 10. und 14. August in der Felsenreitschule – www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: Salzburger Festspiele / Ruth Walz

 

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