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Glück am Rande des Untergangs

FESTSPIELE / BR-SYMPHONIEORCHESTER / RATTLE

02/09/24 Ein Festspiel-Finale zum Nachdenken – Gustav Mahlers die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorausahnende Sechste Symphonie mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Simon Rattle, dessen wohlverdienter „Sir“-Titel im klugen, sehr lesenswerten Programmheft auf seine Biografie beschränkt bleibt. Der Ritter von Gnaden der Queen ist ein Feuerkopf geblieben.

Von Gottfried Franz Kasparek

Simon Rattle hält wie seit gut dreißig Jahren eine in sich stimmige Mitte zwischen kühler Analyse und stets klar kontrolliertem, aber dennoch ergreifenden Überschwang. Der Maestro dirigiert diese eineinhalbstündige, in unerhörte Tiefen des Ausdrucks gehende Welterklärungs-Symphonie auswendig, was allein schon bewundernswert ist, mit klaren Gesten und zwingender Energie. Mag sein, dass man die aus dem Nichts auftauchenden Bläsermelodien im Andante schon anrührender und geheimnisvoller gehört hat, was aber auch an einem Platz in den vorderen Reigen des Großen Festspielhauses liegen kann. Da trifft einen der Klang direkt und mit aller Wucht, energisch und gleißend, in allen Details sorgfältig nachgezeichnet.

Das hundertköpfige Orchester, dessen Chef Rattle seit einem Jahr ist, prunkt mit sonoren Streichern voll Glanz und Würde, einer perfekten Schlagzeugbatterie samt den beiden in der Tat in Mark und Bein gehenden beiden Hammerschlägen im immer wieder in sich selbst zusammenstürzenden Finale, mit sogar bedrohlich klingenden Harfen und in höchster Intensität mit höchstem Können artikulierenden Bläsern. Man gerät in einen wahren Sog vulkanisch sich auftürmender Klangereignisse. Die Modernität dieser Musik kommt ebenso grandios zum Vorschein wie ihre jähen, messerscharfen Kontraste und jenes „Sehnen über diese Welt hinaus“, das Mahlers eigentlichstes Programm war.

Herrlich, wie im ersten Satz schicksalhafte Tragik sich aufbäumt, im zweiten sich wehmutsvolle, lyrische Inseln ausbreiten, Doch der unerbittlich markante Marschrhythmus kehrt im Scherzo zurück. Da vollbringen Simon Rattle und das Orchester eine Meisterleistung an differenzierter, in jedem Takt und Ton transparenter Gestaltung eines immer wieder zerrissenen, fast stotternden Ländlers. Die Welt kurz nach 1900, ersehnt als friedliche Idylle, zerbricht in eine Apokalypse voll totaler Unruhe, versinkt schließlich im verzweifelten Finale.

Man muss kein kein allzu großer Verfechter der Theorien Theodor W. Adornos sein, um manche Zeilen des Musikphilosophen zu unterstreichen. Mitunter traf er das Wesentliche wie in seiner Conclusio von Mahlers Sechster: „Die Katastrophen konzidieren mit den Höhepunkten. Manchmal klingt es, als ob im Augenblick des endlichen Feuers die Menschheit noch einmal aufglühte, die Toten noch einmal lebendig würden. Glück flattert hoch am Rand von Grauen“: Exakt diese Stimmung brachten Simon Rattle und das Orchester an diesem Abend auf den Punkt. Und sie passt punktgenau zu den Katastrophen unserer Zeit.

Das Publikum brach in tosenden Jubel aus und erhob sich zu stehenden Ovationen. Große Musik kann auch in tönender Ausweglosigkeit eine Katharsis bewirken. Man schritt sehr nachdenklich in eine unglaublich heiße Nacht am letzten Tag des Sommers.

Bilder: SF / Marco Borrelli

 

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