Die Zeit spielt verrückt. Spüren sie es nicht?
FESTSPIELE / DER ZAUBERBERG
21/08/24 Sagen wir nicht Theater dazu, nennen wir es einfach einen riesigen Feldversuch: Was hält ein literarischer Text, was hält ein Publikum aus? Der polnische Regie-Altmeister Krystian Lupa hat sich mit dem Ensemble des Jaunimo Teatras aus Vilnius an Thomas Manns Roman Der Zauberberg abgearbeitet. Fünf Stunden netto, mit Pause beinah fünfeinhalb. Und das in litauischer Sprache.
Von Reinhard Kriechbaum
Das Publikum hat in der Pause mit Füßen abgestimmt. Gut ein Drittel (vorsichtig geschätzt) hat das Weite gesucht. Und das gewiss nicht, weil man es hier mit einer fremdartigen Art des Theatermachens zu tun bekommen hätte. Es ist, gleich vorausgeschickt, ein eher konventionelles Erzähltheater nahe am Romantext. Und das Salzburger Festspiel-Theaterpublikum ist durchaus strapazfähig. Es hat heuer schon Neugier und Durchhaltevermögen auf Langstrecke bei vier Orestie-Stunden mit Nicolas Stemann auf der Pernerinsel in Hallein bewiesen.
Mit dem Zauberberg kommt man aber an eine andere Grenze, an jene des Fremdsprachentheaters. Litauen rechnet zwar zur EU, aber wer hat die Sprache im Ohr? Auch für den Schreiber dieser Zeilen war es die erste, durchaus exotisch anmutende Begegnung mit Litauisch im Theater. Eine halblaute, eher monotone, klangfarblich wenig differenzierte Angelegenheit. Auch in fünf Stunden hört man sich kaum ein, empfindet eher Abstumpfung. Wer redet da gerade? Weil akustisch so verwechselbar, heischt man in Szenen mit mehreren Protagonisten nach deren Mundbewegungen. Das ist nicht wenig anstrengend, weil man ja auch mitlesen muss. Deutsche und englische Textprojektionen über der Bühne, für die im Salzburger Landestheater seitwärts Sitzenden auch auf große Tafeln in den beiden Proszeniumslogen. Für jene, die im Orchestergraben Plätze bekommen haben, gibt es auch dort noch zwei kleinere Bildschirme. Man ist also umzingelt von leuchtenden Buchstaben, muss die Augen nicht verdrehen und ist letztlich doch abgelenkt vom Bühnengeschehen.
Krystian Lupa setzt stark auf multimediale Bilder. Die Szenen werden durch Senken eines Gazevorhangs voneinander getrennt, vorgefertigte Videos und Standbilder wechseln ab mit Projektionen per Live-Kamera. Was mag es mit dem Beginn auf sich gehabt haben, wenn Hans Castorp allein im Zugabteil sitzt und draußen plötzlich Haifische vorbeischwimmen? Die Metapher wird nicht weiter verfolgt. Gleich finden wir uns im eher düsteren, farblich ambivalenten Salon der Heilanstalt. Je nach Beleuchtung auch die Veranda mit den obligaten Liegestühlen oder das Untersuchungszimmer mit archaischem Röntgenapparat. Von rechts wird oft ein kleiner Guckkasten herein geschoben, das schäbig tapezierte beengende Zimmer des Hans Castorp. Ein metallenes Bett, ein Sessel, ein Schreibtisch. Und ein Grammophon, auf das er gegen Ende eine Schallplatte mit Schuberts „Lindenbaum“ legen wird.
In der ersten Szene liegt Castorp (Donatas Želvys) im Bett, daneben sitzt Clawdia Chauchat – eine Doppelgängerin promeniert vorbei. Drei Schauspielerinnen (Viktorija Kuodytė, Aušra Giedraitytė, Alvydė Pikturnaitė) werden im Lauf des Abends in diese Rolle schlüpfen. Krystian Lupa nimmt sich Zeit. Über diese wird ja ausreichend philosophiert, so wie über Krankheit und Leben. Es wird einem nichts geschenkt. Doktor Krokowski hält seinen langen Vortrag zu Projektionen von Leonardo bis zum Symbolismus. Auch sonst bringt der Regisseur gerne Zitate aus der Kunstgeschichte ein.
Selten nur eine Erzählstimme aus dem Off, direkte Rede überwiegt. Bedächtige Rede! „Die Zeit spielt verrückt. Spüren sie es nicht?“ Oh ja. Sie drückt aufs Gemüt auch der Zuschauer. Wenig Aufhellung: die kurze Szene mit Hermine Kleefeld und dem Verein „Halbe Lunge“, oder Herrn Albins Hantieren mit dem Messer. Bewegung und Farbe kommt erst kurz vor der Pause in der Karnevalsszene auf, und da entsteht bei der ersten direkten Begegnung zwischen Castorp und Clawdia tatsächlich auratische Stimmung. So recht mühsam schleppen sich in der zweiten Hälfte die Szenen mit Settembrini und Naphta hin. All die Philosophiererei braucht eben einen langen Atem. Mag sein, dass mit Sprachkenntnis manche Feinheit wahrnehmbar würde.
Wirklich berührend gearbeitet sind die Szenen zwischen Clawdia und Castorp, besonders jene, die im Freien vor dem Hotel Berghof spielt. Wie Viktorija Kuodytė aus den Schuhen schlüpft, sich kurz anlehnt an Castorp, wie skrupulös beide miteinander umgehen – da wünscht man sich, dass Krystian Lupa sich viel mehr auf diesen Handlungsstrang (den es in dieser Form im Roman nicht gibt) konzentriert hätte.
Valentinas Masalskis mutiert vom Hofrat Behrens (für den Clawdia einst Modell gesessen ist) zu ihrem neuen Liebhaber Mynheer Peeperkorn, der als lebensweiser Grand Guignol gezeichnet ist. Vor einer Projektion des „Letzten Abendmals“ werden er und Castorp dessen Verhältnis zu Clawdia aufschlüsseln. Peeperkorn und der Wasserfall, in dem plötzlich Leichenteile schwimmen: Da zeigt Krystian Lupa, dass draußen eben eine Welt in Brüche geht.
Unterdessen steuert die Aufführung in die fünfte Stunde, und man hat eigentlich jede Hoffnung aufgegeben, wie diese Bühnenadaption sich selbst jemals wird befreien aus den selbst gelegten Zeitschlingen. Gelöst wird es mit der spiritistischen Séance, die auch nicht wenig breitgewalzt wird und fast zum parodistischen Spektakel verkommt. Auch da Videoprojektionen von fallenden Körpern. Man versteht's schon, auch ohne Anspielungen auf aktuelle Kriegshandlungen. Mit dem Erscheinen des Joachim Ziemßen ein harter Schnitt zum Standbild. Aus.
In den fünf langen Spielstunden haben wir gehörig viel Text mitbekommen, keineswegs also nur eine Instant-Fassung des Romans. Und doch: Lieber hätten wir zum Buch gegriffen. Auch wenn man das in fünf Stunden nie und nimmer durchbringt.
Aufführungen bis 28. August im Salzburger Landestheater – www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: SF / Konrad Fersterer
Zum Vorbericht Einen Roman ins Leben transponieren