Von Nachäffern und Weirdos
FESTSPIELE / SPIEGELNEURONEN
15/08/24 Warnung im Programmheft: „Stellenweise kann es zu räumlicher Nähe zu den Sitznachbar.innen kommen.“ Mit dem verschwitzten Herrn zur Linken (es war der heißeste Tag in diesem Sommer) ist solche nicht unbedingt anzustreben. Mit der bildhübschen Dame rechts? Da könnte zu viel Nähe aus anderen Gründen problematisch werden.
Von Reinhard Kriechbaum
So geht’s, wenn Interaktivität im Zuschauerraum angesagt ist. Aber alles halb so schlimm, wird sich rasch zeigen. Vorhang weg – und da ist keine Bühne. Nur eine große Spiegelfläche. Wir sehen fortan nur uns selbst, einen kunterbunten Publikums-Ameisenhaufen. Wir also werden die nächsten hundert Minuten die Hauptrolle spielen, während eine Schar von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aus dem Off kund tut, was sie so umtreibt in Sachen Gehirn- und Spiegelneuronenforschung.
Spiegelneuronen. Das sind (salopp gesagt) jene Dinger im Kopf, die fürs Nachmachen zuständig sind und damit (noch salopper) dafür, ob wir mittun oder uns einer Sache verweigern. Ob wir liebenswerte Kerle sind oder sture Böcke. Den Spiegelneuronen setzen sich also nun Stefan Kaergi (Rimini Protokoll) mit Sasha Waltz und ihrer Tanzcrew gemeinsam mit dem Publikum auf die Spur.
„Mit etwas Einfachem verführen“, sagt eine der Off-Stimmen, „damit die Menschen mitgehen.“ So läuft also der Hase. Da und dort heben sich prompt Arme. Hände bilden Gesten. Wir haben im Programmheft ja schon Probenfotos gesehen und ahnen, was von uns erwartet wird. Nachmachen ist angesagt. Ich habe Glück, der Bursche unmittelbar vor mir gehört zu Sasha Waltz' Tanzgruppe. Er hat vorbildliche Bewegungen drauf zum anfänglichen Musikgegrummel, einem Cluster, der scheinbar in die Höhe führt und doch auf der Stelle verharrt. „Man bekommt das Gefühl, Teil eines größeren Körpers zu sein“, sagt eine Stimme ins allgemeine Gewachel und Gefuchtel der Leute hinein.
Man hält Ausschau nach potentiellen „Leadern“. In der zweiten Reihe, die dunkelhäutige Dame mit dem weißen Haarband. Das ist sicherlich eine der Tänzerinnen. Die junge Frau im olivgrünen Hosenanzug in der Reihe dahinter wirkt auch auffallend bewegungs-kompetent. Und der indisch aussehende Typ im orangen Hemd weiter links wohl auch. Hinten zückt einer sein Handy und beginnt das Licht zu schwenken. Ein ungefragtes Alphamännchen wohl, hat die Sache offenbar mit einem Popkonzert verwechselt. Gar nicht wenige tun's ihm gleich, aber das legt sich wieder.
Wieder eine Off-Stimme, die Frau erinnert daran, dass einige mit verschränkten Armen da sitzen. Ich fühle mich ertappt. „Wir könnten eine Gruppe gründen von Menschen, die nicht mitmachen wollen.“ Da bin ich dabei! „Das Normale ist oft am wenigsten untersucht“, beruhigt die Spiegelneuronen-Auskennerin.
Aber besonders normal scheint eh der Drang zum Mitmachen. Zum möglichst synchronen Mitmachen. Da geht es bald um Fragen der Demokratie und des Individualismus. Um Anpassen oder bewusstes Ausklinken. Um die Anpassungsfähigen, die Mitläufer und die Eigenbrötler. Um die Balance zwischen Sicherheit aus der Routine oder der Lust am Experiment. Lernen hat mit Nachmachen zu tun, Sympathie und Antipathie sowieso auch. „Wir verhandeln stets mit unseren Körpern, wie nahe man jemanden an sich ranlässt.“ Ja eh. Der Vorschlag, die Schulter des Sitznachbarn zu berühren – da zeigt sich das Publikum deutlich reserviert. Beim Aufblasen und Herumschubsen von Luftballonen sind aber alle mit Freuden dabei. Manche Ballone platzen – „Memento mori“, geht mir durch den Kopf, als ich so eine gelbe schlappe Haut in Händen halte.
Das Licht im Raum spielt eine große Rolle, damit wird recht raffiniert Gruppendynamik anschaulich gemacht. Eine Nebelstruktur wird projiziert und Spots auf Dreier- oder Viergruppen im Raum gerichtet. Sind da viele in ihrer je eigenen Blase gefangen? Oder arme Hunde, weil total einsam? Die Scheinwerfer tasten zeilenweise durch die Stuhlreihen. Bilden sich Allianzen, Parteien? Gruppenbildung ist angesagt, „um sich wieder als Teil der Welt zu fühlen“. Mit Soft-Pop als Musikunterstützung klappt jetzt sanft, was in einer Szene zuvor mit Beats und ordentlich wabernden Bässen auch prompt funktioniert hat: Da ist kurz Clubstimmung aufgekommen. Schwenk zum Nachdenklichen: Was von alledem passiert unterbewusst, intuitiv, zwanghaft? Das Stichwort machine learning fällt. Gehirnforscher können zwar an Primaten herumschnipseln, aber nicht an den vermuteten 86 Milliarden Nervenzellen eines lebenden Menschen. Da muss oft vom Verhalten der Einzelnen aufs Ganze geschlossen werden. Das ist eines der Probleme bei der Spiegelneuronenforschung, die seit ungefähr dreißig Jahren wissenschaftliches – und oft spekulatives – Thema ist.
Regisseur Stefan Kaegi, einer der Köpfe des Dokumentartheater-Kollektivs Rimini Protokoll, führt da also vor, wie es in unseren Köpfen zugeht. Nicht immer vernünftig. Wieder eine Wissenschafter-Stimme: „Man kann schon sagen, dass es in den Gehirnen Unterschiede gibt.“ Whow. In einer Szene treten die Tänzerinnen und Tänzer von Sasha Waltz aus ihrer Anonymität hervor, klettern über die Sitzreihen. Der beleibte Herr ein paar Reihen vor mir, der gar so eifrig mitgemacht hat bisher, bleibt da doch sitzen.
Man muss auch wissen, wo das Nachäffen seine Grenze hat. Diese zieht freilich jeder für sich. Mit Creek der britischen Rockband Radiohead wird man aus dem Abend entlassen, mit Projektionen von Gehirnen und Nervenstrukturen, und des Songtexts. Im Refrain „I wish I was special“ kommt das Wort „Weirdo“ vor. Es ist gerade wieder recht populär...