Empfindungen und Visionen
FESTSPIELE / SOKOLOV
06/08/24 Der Grandseigneur des Klaviers, Grigory Sokolov, gab am 5. August seinen traditionellen Abend im Großen Festspielhaus. Ein Konzert des russischen Virtuosen hat immer drei Teile – einen vor, einen nach der Pause und einen mit mindestens fünf Zugaben. So auch diesmal, zur Freude des enthusiastischen Publikums im – inklusive Podiumssitzen – ausverkauften Haus.
Von Gottfried Franz Kasparek
Es ist geradezu magisch, wie der alte Herr aus dem Dunkel auftritt, sich im dämmerigen Licht am Flügel niederlässt und sofort zu spielen beginnt. Am Anfang stand Johann Sebastian Bach. Wenn sich Grigory Sokolov den etwas rätselhaften vier Duetten aus der „Clavier Übung III“ und der Partita Nr. 2 c-Moll aus der „Clavier Übung I“ widmet, dann wird aus den pausenlos gespielten Einzelstücken eine in sich stimmige Phantasie. Keinen Moment lang stellt sich die Frage, ob ein Steinway das richtige Instrument dafür ist. Bach, stets am Neuen interessiert, hätte ein solches „Clavier“ sicher freudig begrüßt – und der Pianist lässt die kunstvoll perlenden Doppelfugen, die kontrapunktischen Finessen und die wenigen, aber erfüllten Augenblicke des Nachsinnens in zeitloser Größe erklingen, ohne jeglichen Anflug von Romantisierung. Glasklar und pointiert, mit technischer Souveränität und gleichsam in sich ruhend gestaltet er diese instrumentalen Choralvorspiele als vierzigminütige „Recreation“ des Geistes und des Gemüts.
Nach der Pause gab es große Romantik. Zunächst fasste Sokolov die Vier Mazurken op. 30 und die Drei Mazurken op. 50 von Frédéric Chopin ebenfalls zu einer einzigen Phantasie, diesfalls über polnische Tänze, zusammen. Grandios, wie er die rhythmische Komplexität dieser von Sehnsucht nach der Heimat geprägten Stücke auffächert und dabei doch spannende melodische Bögen baut. Bewegend, wie im op. 30 die Des-Dur Mazurka in jene in cis-Moll mündet. Da schwebt eine verinnerlichte, balladenhafte Erzählung vom Leben im Exil dahinter. Man kann nachvollziehen, dass George Sand diese Stücke über „die ganze Literatur des Jahrhunderts“ stellte. Da konnte sie Robert Schumanns Waldszenen op. 82 natürlich noch nicht kennen.
Chopin und Schumann schwärmten gegenseitig von einander, so unterschiedlich ihre musikalischen Physiognomien auch sein mochten. Romantische Empfindungen und visionäre Ideen vereinten sie. Wie Schumann in der siebenten der „Waldszenen“ den „Vogel als Prophet“ gleichzeitig „langsam, sehr zart“ und verwegen dissonant in die harmonisch freie Zukunft blicken lässt, verwundert bis heute. Da lugen auf einmal der späte Liszt, Debussy und sogar Webern um die Ecke. Grigory Sokolow spielt auch diese programmatischen Stücke nur mit kleinen Generalpausen und mit der ihm eigenen Mischung aus Energie und Verhaltenheit. Ein erhellender und beglückender Waldspaziergang mit einsamen Blumen und lauernden Jägern wird zum packenden Bilderbogen.
Der Jubel wollte kein Ende nehmen und so setzte Alexander Skrjabins Prelude e-Mollop. 11/4 den Weg in die Zukunft fort, kehrte Chopin mit weiteren Mazurken zurück und verblüffte Henry Purcells Chaconne g-Moll in ihrer latenten Modernität. Schließlich kehrte der nimmermüde Pianist zu Bach zurück, mit dem Choralvorspiel Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ, welches man auch als Friedensbitte verstehen kann. Auf Wiedersehen und Wiederhören, Grigory Sokolov!