Ich bin nicht so eine!
FESTSPIELE / DER IDIOT
03/08/24 „Das Herz ist doch das Wichtigste. Alles andere sind Flausen.“ Das sagt nicht Der Idiot, also der notorische Gutmensch Fürst Myschkin, der wie Parzifal als reiner Tor in einer Welt landet, in der Frauen ganz unverhohlen ihrem Geldwert nach beziffert und gehandelt werden. So spricht die Mutter von Aglaja, einer der beiden Frauen, zwischen denen die Hauptfigur in Mieczysław Weinbergs Oper emotional zermalmt wird.
Von Reinhard Kriechbaum
Der Idiot ist, gar keine Frage, allergrößte Gefühls-Oper. Das 2013, lang nach dem Tod des Komponisten 1996 uraufgeführte Werk hält locker mit manchem Stück des italienischen Versimo mit, wenn auch die Musiksprache in dem Mitte der 1980er Jahre entstandenen Werk logischerweise eine andere ist. In Mirga Gražinytė-Tyla steht eine ausgewiesene Weinberg-Spezialistin am Pult. Sie und die Wiener Philharmoniker bringen eine Eigenschaft dieser Partitur gar wunderbar heraus: Es scheinen so oft Tanzmusik-Muster durch, immer wieder Walzer-Anspielungen, in denen das Orchester genuine Tonschönheit und Charme ausspielt. Das verträgt sich durchaus auch mit den harten Clustern, die Höhepunkte der Verzweiflung und Ausweglosigkeit markieren. An solchen fehlt es nicht. Durch die Hölle gehen in den dreidreiviertel Opernstunden nicht nur die Hauptfigur, sondern auch Rogoschkin, der Widersacher um die Gunst der Nastassja Baraschkowa. Und ebenso die beiden Frauen, Nastassja und Aglaja.
Absolut genial, wie der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski und seine Bühnenbildnerin Małgorzata Szczęśniak diesen Stoff nach dem Roman von Dostojewski der Felsenreitschule einschreiben und dafür radikal die gesamte Bühnenbreite nutzen. Episches Format für einen episch sich auffächernden Stoff. In eine elendslange Holzpaneelwand mit vielen Türen sind eine Guckkastenbühne und eine Projektionsfläche eingearbeitet. Gläserne Wandschränke links und rechts vermitteln mehr dekorative Kälte als Salon-Atmosphäre. Ohne platten Realismus erzielt Warlikowski in diesem Setting ganz rasche Szenenwandlungen, die an die Flexibilität von Filmschnitten erinnern. Projektionen spielen eine Rolle, gleich in der ersten Szene (sie spielt in einem Eisenbahnwaggon). Eine Winterlandschaft zieht langsam vorbei und eine Sessel-Tisch-Garnitur fährt in Zeitlupe über die Bühne. So simpel, so suggestionsstark.
Fürst Myschkin, dieser russische Parzifal, landet also in einer vom Geld bestimmten Welt. Den zwielichtigen Geschäftsmann Rogoschin umgeben Broker (Männer der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor). Aktienkurse leuchten auf. Unsummen werden geboten für Nastassja, die in einer Welt von Geldhaien eiskalt verschachert wird. Kriegt sie der Meistbietende zur Ehefrau? „Ich bin nicht so eine“, wird sie Myschkin versichern – und doch mit Rogoschin ziehen.
Bogdan Volkov ist Fürst Myschkin: Ein fast überirdisch heller lyrischer Tenor. Wenn Myschkin, der tiefstes Mitleid für Nastassja empfindet und sie retten will aus dieser unmenschlichen Umgebung, von Mitleid redet, dann wirkt diese Stimme so fein und zerbrechlich, dass das Scheitern in der Härte der Wirklichkeit schier zwingend vorgezeichnet ist. Beachtlich kraftvoll sind aber auch seine emotionalen Ausbrüche.
Nastassja ist zu ihrem selbsternannten „Retter“ logischerweise hingezogen, weiß aber die Aussichtslosigkeit seines Anders-Seins richtig einzuschätzen. So wie er sie durch Heirat retten will, versucht sie ihn zu retten, indem sie sich ihm entzieht. Die Sopranistin Ausrine Stundyte fasst gestalterisch jede Faser dieser emotional so breit angelegten Rolle. Sie spielt kokett und lasziv mit den Männern, die sie zutiefst verachtet. Ihr wachsendes Vertrauen in Myschkin, die aufflammende Liebe zu ihm vermittelt sie genau so glaubwürdig wie ihre für sie selbst so schmerzhafte Entscheidung, ihn rauszuhalten aus der Malaise um sich selbst und diese Gesellschaft, die er nicht verstehen kann.
Dann ist da noch Aglaja, die ihrerseits als potentielle Ehekandidatin zur Seelenrettung des „Idioten“ aufrüstet. Damit wird sie zur Intimfeindin von Nastassja. Xenia Puskarz Thomas hat für diese Rolle einen so leidenschaftlichen wie herausfordernd-schneidigen Sopran anzubieten. Dass sich all dies zu einer Tragödie von schier antikem Zuschnitt auswächst liegt daran, dass die einander so Wohlgesinnten in ihrem Wohlwollen für Myschkin schier überbieten. Für die beiden Frauen wie für Myschkin zerrinnen die Grenzen zwischen Liebe und Mitleid, zwischen Zuneigung und Beschützerinstinkt. Blindwütiges Gutmenschentum führt zu Eifersucht und Hass.
Vladislav Sulimsky ist der „Bösewicht“ Rogoschin, der Meistbieter für Nastassja. Er zeichnet diese Rolle keineswegs rabenschwarz, eher gutmütig. Er weiß sehr wohl, dass er Liebe nicht mit Geld erkaufen kann. Ein Femizid schließlich aus Verzweiflung? Man könnte sich aktuelle Richterbegründungen und Zeitungsartikel zu dieser Causa gut ausmalen...
Dostojewski/Weinberg in einer szenischen Umsetzung ganz nah an unserer Zeit: Warlikowskis Inszenierung kommt ohne Mätzchen aus. Sie bietet eine schlüssige Erzählung, präzis gearbeitet und anschaulich charakterisierend in jeder Figur. Immer wieder greift der Regisseur zu Symbolen. Dass Christus im Grab (als Projektion) und der körperlich leidende „Idiot“ Myschkin gleichgesetzt werden, ist vielleicht etwas dick aufgetragen, aber schon auch einleuchtend: Der polnische Jude Mieczysław Weinberg ist in der Nazi-Zeit nach Russland geflohen (wo ihn die UdSSR-Kulturschergen zeitlebens nicht haben hochkommen lassen). Er hat in seiner polnischen Heimat vermutlich Christentum genug mitbekommen, um in Dostojewskis Idioten eine Passionsfigur zu erkennen. Der Pole Warlikowski weiß wohl, was er da vorführt.
Warum wird Der Idiot nicht längst als eines der maßgeblichen Opernwerke des späten 20. Jahrhunderts gehandelt? Es braucht ein riesiges Sängerensemble. Da trumpfen die Festspiele jetzt so recht auf: Zwölf Rollen, eine jede typengerecht und vor allem stimmlich optimal besetzt und von Mirga Gražinytė-Tyla zu einem grandios stimmigen Ensemble geformt. Man müsste mit dem Aufzählen ganz unten beginnen, etwa beim famosen Tenorbuffo Alexander Kravets in der Nebenrolle des Messerschleifers, und sich die Liste hocharbeiten zu den Brautwerbern. Lauter Testosteron-Finsterlinge. Pavol Breslik als Ganja steht, weil mit zu wenig Bargeld ausgestattet, als echter Liebhaber der Nastassja ohne Hoffnung da. Unbedingt hervorzuheben ist Margerita Nekrasova als Aglajas Mutter – das ist jene, die das monströse Geldspiel der Männer scharf beobachtet, kommentiert und eben einmal das gute Herz des vermeintlichen „Idioten“ in die Diskussion wirft. Eine besondere Charismatikerin im Ensemble.
Nicht zu vergessen auf Jurii Samoilov, der als Lukjan, dienstbarer Geist von Rogoschin, eine zwielichtige Rolle einnimmt zwischen Intrigant, Spielmacher und Erzähler der Geschichte. Ein beweglicher, stimmlich in jeder Lage präsenter Bariton. Das ganze Ensemble profitiert von der delikat führenden und das Orchester zu starker, aber kontrollierter Emotionalität anhaltenden Dirigentin. Die Sängerfreundlichkeit ist dieser im besten Sinn „filmmusikalischen“ Partitur gleichsam schon eingeschrieben. Ein großes Werk in einer großen, wahrhaft festspielwürdigen Interpretation. Der Jubel ist dem entsprechend ausgefallen.
Aufführungen bis 23. August in der Felsenreitschule – www.salzburgerfestspiele.at
Die Aufzeichnung der Premiere wird am 23. August um 20 Uhr im Internet auf medici.tv und Stage+ ausgestrahlt
Bilder: SF / Bernd Uhlig